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Johannes Nichelmann bei FM4

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Johannes Nichelmanns „Nachwendekinder“: Wie war das damals in der DDR?

Der Journalist und Autor Johannes Nichelmann begibt sich in seinem Buch „Nachwendekinder - Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ auf die Suche nach den Wurzeln seiner Generation.

Von Ambra Schuster

30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist noch immer nicht alles gesagt. Wie war das damals in der DDR und welche Rolle haben die eigenen Eltern und Großeltern gespielt? Welchen Schatten wirft ein Staat, den es seit 30 Jahren nicht mehr gibt, auf das eigene Leben? Bis heute haben „Nachwendekinder“ viele Fragen und wenige Antworten über ein Land, das nur mehr in den Köpfen existiert. Sie sind rund um 1990 im Ostdeutschland geboren und haben die Deutsche Demokratische Republik nie bewusst erlebt. Und trotzdem sind sie bis heute von der ehemaligen sozialistischen Diktatur geprägt.

Johannes Nichelmann ist 1989 in Berlin geboren und studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2008 arbeitet er als freier Reporter, Autor und Moderator für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Da ist zum Beispiel Maximilian, der sich fühlt wie ein Einwandererkind und einen Trabant fährt, um noch ein Stück DDR zu erleben. Oder Franziska, die nebenbei erfährt, dass sich ihr Großvater, ein Stasi-Offizier, umgebracht hat. Und Lukas, der durch Zufall erfährt, dass sein Vater die Ostberliner Schwulenszene bespitzelt hat.

Mittendrin ist auch der Autor Johannes Nichelmann selbst. Er ist 1989 in Ostberlin geboren, aber im wiedervereinten Deutschland aufgewachsen. Als Kind entdeckt er gemeinsam mit seinem Bruder im Keller die Uniform des Vaters, der bei der NVA, der Nationalen Volksarmee, Grenzsoldat war. „Auf einmal stand unser Vater in der Tür und ist vollkommen ausgerastet“, sagt Nichelmann im Interview. Da sei klar gewesen, dass über das Thema, also die politische DDR, nicht gesprochen wird.

Buchcover mit Plattenbau

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40 Jahre Stasi-Knast vs. 40 Jahre Ostseeurlaub

Das Bild der DDR und damit auch der eigenen Wurzeln ist in den Köpfen der Nachwendekinder geprägt von Extremen aus innerfamiliären (Nicht-)Erzählungen und der äußeren, medialen Berichterstattung. Dazwischen liegen viele blinde Flecken.

30 Jahre Mauerfall

Berlin-Serie zum Bingen
Der RBB widmet mit „Schicksalsjahre einer Stadt“ dem Berlin der Mauerzeit eine Serie mit Suchtpotenzial. (Christian Lehner)

Schon mal was von Radio DT64 gehört?
DT64 hieß der Jugendradiosender in der DDR. Ein bisschen das DDR-Pendant zu FM4 also, nur unter ganz anderen politischen Umständen. (Stefan Elsbacher)

Den Grund für das Schweigen sieht Nichelmann vor allem in der Scham, die viele gegenüber ihrer DDR-Vergangenheit empfinden. „Manche schämen sich, weil sie an den Sozialismus geglaubt haben und nie etwas hinterfragt haben. Andere trauen sich nicht, etwas zu sagen, weil sie eine Biografie haben, die auf den ersten Blick schnell zu verurteilen ist. Also wenn sie bei der Partei oder an der Grenze waren. Die haben auch tatsächlich Angst, ihren Job zu verlieren.“

Johannes Nichelmann schildert, wie er als Teenager nach Bayern übersiedelt. Erst hier wird er, wie er selbst sagt, zum „Ossi“. „Ich begann mich abzugrenzen und als Ostdeutscher zu identifizieren, weil ich von den anderen Kindern als solcher abgestempelt wurde. Ich verteidigte Ostdeutschland und die DDR, ohne genau zu wissen, was ich da verteidige. Da entstand so eine Art Binnensolidarität.“ Dabei betont er, dass es die ostdeutsche Identität ja gar nicht gibt.

Und trotzdem: Klischees und Vorurteile gegenüber „dem Osten“ und „den Ostdeutschen“ halten sich bis heute. Auch in der medialen Berichterstattung. „Mich nerven die Verallgemeinerungen. Mich stört es, dass Ostdeutschland ein Klumpen Land sein soll, in dem alle gleich ticken, alle die gleichen Antworten haben und alles ein bisschen runtergekommen und traurig ist. Das hängt noch in zu vielen Köpfen fest.“

„Nachewendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ ist mit 272 Seiten im Ullstein-Verlag erschienen.

Als ostdeutsch abgestempelt und mit Vorurteilen konfrontiert zu werden, sind Erfahrungen, die viele Nachwendekinder machen, sobald sie in ein westliches Bundesland ziehen. Einer der Protagonisten, Sandro, legt deshalb seinen Dialekt ab. Er will nicht immer auf seine Herkunft reduziert werden. Beatrice ist in ihrer Arbeit in Frankfurt die Quoten-Ostdeutsche und wird gefragt, ob sie denn gerne Bananen esse, weil sie das früher in der DDR ja nicht hatten. Mit der ostdeutschen Herkunft scheint eine Art aufgezwungene, einheitliche Identität einherzugehen. Ein Umstand, der mit dazu beiträgt, dass sich Menschen aus dem Osten vielfach auch heute noch wie Deutsche zweiter Klasse fühlen würden.

Notwendiger Dialog

Geht es in der ersten Hälfte des Buches noch um die Identitätssuche der Nachwendekinder, wird im zweiten Teil das Schweigen gebrochen. Nachwendekinder sprechen erstmals mit ihren Eltern über das, was damals war. Auch Nichelmann spricht mit seinen Eltern über die eigene Vergangenheit und beantragt Einsicht in die Stasi-Akten seines Großvaters.

Es ist ein schmerzhaftes und mühsames Aufarbeiten und trotzdem notwendig, meint Nichelmann: „Das Buch soll zum Dialog anregen. Ich glaube, dass innerhalb der Familien noch viel Redebedarf ist. Und ich habe auch das Gefühl, dass das passiert. Ich bekomme viele Nachrichten über Facebook und Instagram und auch bei Lesungen bekomme ich mit, dass viele Nachwendekinder mal bei der Oma anrufen oder am Sonntag nach Rostock fahren.“

„Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ zeichnet ein differenziertes Bild der DDR und verwebt persönliche Anekdoten und Expert*innenmeinungen zu einem großen Generationenportrait.

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