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"Johnson v Corbyn: The ITV Debate

APA/ITV/AFP/Jonathan HORDLE

ROBERT ROTIFER

Ofenfertig! Die große Debatte zwischen Corbyn und Johnson

Während zornige Jungwähler*innen den Premier in seinem Wahlkreis zu stürzen versuchen, fand gestern im Fernsehen, eine ganze Medienwelt davon entfernt, die große Debatte zwischen Jeremy Corbyn und Boris Johnson statt. Mich erinnerte das an meine Lasagne.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Als Boris Johnson zum zweiten Mal in wenigen Minuten seinen alten Heuler von einem „ofenfertigen Deal“ anbringt, erinnere ich mich, dass ich die Lasagne ins Rohr schieben muss. Aus der Küche höre ich, wie sie weiterplätschert, die große Fernsehdebatte zwischen den beiden Männern, von denen einer der nächste Premierminister Großbritanniens sein wird.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Es ist so schwer, dabei nicht abzudriften, Ja man muss sagen: In der Küche sein hilft. Da muss man genauer hinhören, und mein Blick bleibt nicht immer an den unbezahlbar schlechten Anzügen der beiden Kandidaten hängen.

Wo wir schon dabei sind, wesentliche Unwesentlichkeiten auszusprechen: Jeremy Corbyns Brillen sitzen schon wieder ganz fürchterlich schief, so als wäre er seit Stunden mit aufgestütztem Kinn an der Theke gesessen. Sagt ihm das denn keiner?

Sein Angriff auf Johnson, jener werde in einem Handelsabkommen mit den USA das staatliche Gesundheitssystem an amerikanische Konzerne ausverkaufen, scheint immerhin anzukommen.

Keineswegs, sagt Johnson, und kommt schon wieder mit seinem ofenfertigen Geschwafel daher: Sein Deal, der beste Deal, der dafür sorgt, dass das Land vereint bleibe und frei, sich in der großen weiten Welt zu behaupten, sie haben gesagt, wir würden das nie schaffen, aber wir haben es geschafft, den Backstop extrahiert, und keine Zollgrenze zu Nordirland, das ganze Land vereint.

Es ist wie eine gekürzte Wiederaufführung seines klassischen After-Dinner-Improvisationsstücks „Mein Deal, erklärt von mir“, das vor zwölf Tagen per Videomitschnitt seinen Weg in die sozialen Medien fand. Nur nüchtern diesmal.

Corbyn kann sich dunkel daran erinnern, wie sein Schatten-Brexit-Minister Keir Starmer ihm dieses Video zeigte und erklärte, warum Johnson da kompletten Unsinn redet. „Es wird sehr wohl eine Grenze geben!“ sagt Corbyn, aber Johnson besteht einfach auf seiner bevorzugten Version der Welt, und Corbyn fällt jetzt auch nicht mehr genau ein, was Starmer zu sagen hatte, der redet ja auch immer wie aufgezogen, man kann ihm schwer folgen. Also erzählt er stattdessen irgendwas darüber, dass es wichtig sei, „den Leuten zuzuhören“, und schon ist das Thema Brexit erledigt.

Ich mag mich täuschen, aber ich glaube, mit seiner Beschreibung des desolaten Zustands des National Health Service hat Corbyn danach wieder gepunktet. Doch Johnson, gänzlich frei der Hemmnisse, die ein Gefühl für Wahrheit dem freien Redefluss gewöhnlicherer Menschennaturen auferlegt, kontert, das Fehlen an Mitteln für das NHS sei ausschließlich Labours Zaudern beim Brexit zu verdanken. Geht sowas wirklich rein? Wahrscheinlich völlig egal.

Tatsächlich emotional berührend, ja gar erschütternd ist dann allerdings der Moment, als Corbyn erwähnt, dass die ärmsten Länder am stärksten vom Klimawandel betroffen seien, und die Claqueure Johnsons (beide haben ungefähr gleich viele im Publikum) in höhnisches Gelächter ausbrechen.

"Johnson v Corbyn: The ITV Debate

APA/ITV/AFP/Jonathan HORDLE

Ich stelle mir vor, wie der Johnson-Claqueur abends nach Hause kommt.
„Wie war’s, Schatz?“
„Ganz gut. Ich meine, Boris... Du kennst Boris...“
„Ja. Gab’s auch was zum Lachen?“
„Schon. Als der andere was über Menschen in armen Ländern gesagt hat, die unter Klimawandel leiden.“
„Hahaha. Arme Länder. Klimawandel. Hahaha.“
„Ich weiß. Gibt’s nicht, oder?“
„Komm ins Bett jetzt, aber bleib auf deiner Seite.“
Beide schlafen augenblicklich ein.

Ich dagegen war hellwach, ehrlich, aber die Stunde war um, die Debatte aus. In der Zwischenzeit hatte sich der Twitter-Account der konservativen Pressestelle @CCHQ in „FactcheckUK“ umbenannt und Boris Johnson zum klaren Gewinner der Debatte erklärt. Kein Witz, hier der Screengrab:

Der Twitter-Feed der konservativen Pressestelle erklärt sich zum Factcheck und Johnson zum Gewinner

Twitter

Nach einem mittleren Shitstorm (in England sagt übrigens niemand „shit storm“) wurde die Handle (der Handle?) des Accounts wieder auf „CCHQ Press“ zurückgestellt, aber immerhin hatten wieder alle was zu reden gehabt, und als das nachließ, dämmerte mir auch langsam wieder, was ich vor all der Ablenkung eigentlich in diesem Blog hier schreiben wollte.

Am Vormittag nämlich hatte ich ein Gespräch mit dem Kollegen Chris Cummins in Wien für den FM4 Reality Check geführt, angenehm wie immer.

Dabei ging es um die Möglichkeit, dass Boris Johnson in seiner Eigenschaft als gewöhnlicher Parlamentarier diesmal nicht den Einzug ins Unterhaus schaffen könnte, weil sich in seinem Wahlkreis in Uxbridge & South Ruislip am nordwestlichen Rand von London eine Koalition junger Aktivist*innen gebildet hat, die seine nicht besonders solide Mehrheit von 5034 Stimmen aus dem Jahr 2017 (entsprechend einem Vorsprung von knapp 11 Prozent auf die zweitplatzierte Labour Party) brechen will.

Von der feministischen Gruppe FCK Boris über die seit dem Wahlkampf 2017 vermeintlich eingeschlafene Musiker*innen-Plattform Grime4Corbyn bis hin zu einer Vereinigung von hohen Gemeindesteuern und Liegegebühren belasteter Hausboot-Bewohner*innen namens Operation Votey McVoteface, haben sie sich alle unter dem Motto „Kick Him Out“ hinter einem Labour-Kandidaten namens Ali Milani vereint. Er ist 25 Jahre jung, aus dem Iran eingewandert und war bis vor 2017 Präsident der Student*innengewerkschaft an der im Wahlkreis gelegenen Brunel University, ist also bestens platziert, junge Wähler*innen zu mobilisieren.

Als ich mit Chris darüber gesprochen hatte, war ich selbst schon fast angestachelt vom Enthusiasmus dieser Leute (Wo bleibt die journalistische Distanz? Ja, okay), aber die nüchterne Wahrheit ist wohl: Selbst wenn „Kick Him Out“ Erfolg haben sollte, würde der sich wohl auf einen rein symbolischen Sieg beschränken: Dass zum ersten Mal eine Partei ohne ihren Spitzenkandidaten, aber mit fetter Regierungsmehrheit im Unterhaus sitzt.

Denn nach allen Umfragen sieht es ganz so aus, als würde der konservative Gamble aufgehen. Trotz all des Johnsonschen Gestammels, trotz seiner Lügen, seiner diversen Affären und Korruptionsvorwürfe (inklusive russischer Connections, die allerdings praktischerweise erst nach der Wahl offen gelegt werden sollen).

Und trotz seines ofenfertigen Brexit-Deals, der das Bruttoinlandsprodukt selbst laut regierungsinternen Prognosen um 6,7 Prozent schrumpfen lassen wird.

Ich hatte gestern Abend eine lange Liste von Gründen dafür aufgeschrieben, wie es sein kann, dass so jemand eine Wahl gewinnt. Sie bestand vor allem aus Beschreibungen des Versagens der Opposition, und sie machte mir beim Durchlesen heute morgen zu viel Kopfweh, um sie euch zuzumuten, also hab ich sie jetzt einfach gestrichen.

Stattdessen springe ich, anlässlich der Fernsehdebatte schnell vor zum letzten, wahrscheinlich entscheidenden Punkt:

Wenn Johnson, dieser gänzlich unbeeindruckende Mann, der da gestern Abend im Fernsehen so erbärmlich vor sich hin stotterte, tatsächlich diese Wahl gewinnt, dann wird er das letztlich keinen manipulativen Twitter-Feeds oder Facebook-Memes, sondern derselben alten britischen Medienlandschaft zu verdanken haben, aus der er kommt, die ihn groß gemacht hat und selbst die plumpsten seiner Lügen noch hörig in die kleine britische Welt hinausposaunt. Wie hörig, das illustriert diese Grafik der Loughborough University, die positive und negative Berichterstattung über die zur Wahl stehenden Fraktionen vergleicht:

grafische Analyse der politischen Berichterstattung in britischen Zeitungen

Loughborough University

Der altgediente, konservative Journalist Peter Oborne wurde neulich von seinem Job als Kolumnist bei der Daily Mail gefeuert, nachdem er einen vielzitierten Blog unter dem Titel British Journalists have become part of Johnson’s fake news machine veröffentlichte.

Gestern hat Oborne zum selben Thema eine Kolumne im Guardian nachgelegt. Darin fand sich unter anderem ein erstaunlicher Satz, der alles erklärt. Die sagenhafte Überheblichkeit des medialen Establishments und seine Bereitschaft, das Publikum nach Strich und Faden zu verarschen. Die (tragischerweise vermutlich richtige) Annahme, dass das Publikum sich auch verarschen lassen will. Den Bankrott einer Demokratie, die den Schein ihres Funktionierens über alles stellt und sich dabei munter selbst abschafft.

Ich will diesen Satz Obornes zum Ausklang dieses Blogs hier also einfach frei schwingen lassen:

„Ich habe mit hochrangigen Kräften in der BBC gesprochen, und die sagen mir, dass sie es persönlich für falsch halten, Lügen aufzudecken, die ein britischer Premierminister erzählt, weil es das Vertrauen in die britische Politik unterminiere.“

Ladies and gentlemen and anyone who’s neither, we’re so fucked.

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