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Todor Ovtcharov

Wie schmeckt die Freiheit?

Die Eltern meines Freundes Evgeni machten sich in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf eine gefährliche Reise.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Die Eltern meines Freundes Evgeni kommen aus Kasan, der Hauptstadt der autonomen russischen Republik Tatarstan am Ufer der Wolga. Sein Vater war mal ein Stadtplaner. Zu seiner Arbeit gehörte das Entwickeln von einem neuen Stadtzentrum. Der Plan dafür aber erschien ihm immer sinnlos, sogar schädigend – man musste fast das ganze historische Zentrum der Stadt demolieren. Er protestierte öffentlich dagegen und das brachte ihn in große Schwierigkeiten: Er wurde zuerst gefeuert und dann wurde gedroht, ihn nach Sibirien umzusiedeln.

Um nicht umgesiedelt zu werden entschied er sich zu fliehen. Er und seine Frau erzählten allen, dass sie nach Moskau auf Urlaub fahren werden, planten aber währenddessen, das Land zu verlassen. Die Großmutter von Evgeni, Evgenia, blieb in Kasan zurück, um die Legende vom Moskau-Urlaub zu erzählen. Als Nachbarn und Geheimdienstagenten sich erkundigen wollten, wo die Familie ist, kämpfte Evgenia tapfer und erzählte allen, dass sie gerade in Moskau sind um sich den Kreml anzuschauen. Sie zeigte sogar eine Postkarte mit dem Kreml darauf (eigentlich war diese Postkarte schon 20 Jahre alt).

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Und so machten sich in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Vater und die Mutter von Evgeni auf eine gefährliche Reise. Sie durchkreuzten die halbe Sowjetunion, um über die Grenze in die Türkei zu gelangen. Am Ende landeten sie in den USA, in Kalifornien in der Stadt Sacramento. Dort wurde auch Evgeni geboren.

In Sacramento war der Vater von Evgeni kein Stadtplaner mehr, sondern Taxifahrer. Er war mit seinem Leben zufrieden. Das Einzige was ihm fehlte, war der Kontakt zu seiner Mutter in Kasan. Er schrieb ihr regelmäßig Briefe, doch die sowjetischen KGB-Agenten öffneten sie, lasen und entsorgten sie. Viele Jahre wusste die Oma von Evgeni nicht, was mit ihrem Sohn und mit ihrer Schweigertochter passiert ist – und dass sie die Oma von Evgeni ist.

Bis 1989 die Mauer fiel. Der Vater von Evgeni wollte sich schnell auf den Weg zu seiner Mutter machen und nahm auch den Enkel Evgeni mit. Er fragte sie, was er ihr aus Kalifornien mitbringen soll. Die Oma meinte, das einzige was sie will ist eine Orange, denn im sonnigen Kalifornien gäbe es bestimmt viele davon. Damals, Anfang der 1990er waren Südfrüchte in Russland extrem selten und ein Symbol des westlichen Wohlstands.

Der Vater kaufte eine ganze Kiste mit Orangen und die beiden machten sich auf dem Weg über Moskau nach Kasan. Als sie in Russland ankamen (die Sowjetunion gab es nicht mehr), wollten die Zollbeamten wissen, was in der Kiste ist. Als sie erfuhren, dass es Orangen sind, wollten sie, dass eine geprüft wird, um keine amerikanischen Krankheiten nach Russland zu bringen. Der Vater von Evgeni war einverstanden, er ließ die Kiste da und machte einen Kurzurlaub in Moskau. Er machte ein Foto von sich und seiner Familie vor dem Kreml. Als er aber seine Orangen abholen wollte, waren sie schon verdorben und sahen aus wie schlechter Orangensaft.

Sie fuhren nach Kasan. In der Zwischenzeit war Oma Evgenia krank geworden und lag auf ihrem Sterbebett. Sie konnte sich kaum bewegen, doch sie schaffte es irgendwie ihren Enkel Evgeni am Kopf zu streicheln. Und dann fragte sie mit zittriger Stimme nach der Orange. Evgenis Vater geriet in Panik und lief schnell ins Geschäft. Er dachte, dass nach dem Mauerfall die Geschäfte voll mit allen möglichen Waren sein werden. Orangen aber gab es nirgends. Das Einzige was er finden konnte, waren Zitronen.

Er kaufte eine Zitrone und rannte zu seiner sterbenden Mutter. Er gab sie seinem Sohn Evgeni und der gab sie der Oma Evgenia. Sie war fast blind und ihre Geschmacksnerven funktionierten nicht mehr richtig. Sie nahm die Zitrone in ihre Hände, roch daran und hielt sie lächelnd vor ihre Augen. Danach nahm sie einen Bissen. „So schmeckt also die Freiheit!“, sagte sie und starb kurz danach.

So wurde sie auch begraben: mit der Zitrone in der Hand, die für sie die Freiheit symbolisierte.

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