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Porträt der Autorin Chanel Miller

Mariah Tiffany

Chanel Miller holt sich mit „Ich habe einen Namen“ ihre Stimme zurück

Der Prozess um den US-amerikanischen Sexualstraftäter Brock Turner ging durch die Medien. Drei Jahre später veröffentlicht das Opfer Chanel Miller ihre Geschichte – erstmals unter ihrem eigenen Namen.

von Michaela Pichler

„Das hier ist nicht die absolute Wahrheit, aber es ist meine, und ich habe sie erzählt, so gut ich kann.“ So beginnt das autobiographische Werk „Ich habe einen Namen“ von der US-Amerikanerin Chanel Miller. Fast fünf Jahre ist es nun her, als ein damals 19-jähriger Brock Turner die junge Frau bei einer Party auf der Stanford University hinter Mülltonnen vergewaltigt. Chanel Miller war zu diesem Zeitpunkt bewusstlos. Sie wacht erst wieder am nächsten Morgen in einem Krankenhaus auf – mit verkrusteten Wunden an den Armen, ohne Unterhose und mit Kiefernzapfen und Erde in den Haaren. Miller beschreibt, wie das Krankenhauspersonal jeden Millimeter ihres Körpers nach Turners DNA absucht, Abstriche macht und die Straftat zu konservieren versucht. Die junge Frau befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch in einer Schockstarre, erst später überrollen sie die Geschehnisse. Erst später wird der bereits gefasste Brock Turner aufgrund einer saftigen Kaution wieder aus dem Gefängnis entlassen. Erst später tritt Emily Doe in Chanel Millers Leben: Das ist der Name, den Miller jahrelang als Pseudonym tragen wird. Emily Does Leben unterscheidet sich allerdings stark von Millers. „Emily lebte in einer winzigen Welt, eng und begrenzt. Sie hatte keine Freunde und tauchte nur gelegentlich auf, um zum Gerichtsgebäude oder zum Polizeirevier zu gehen oder um Telefonate im Treppenhaus zu führen.“

Für Chanel Miller beginnt 2015 ein jahrelanger Kampf um eine Stimme. Sie wird von der Justiz und in den Medien vom menschlichen Wesen zum gesichtslosen Opfer degradiert - zu Emily Doe. Früh muss Miller lernen, was ein gutes Opfer ist, wie es sich verhält, dass es sich niemals in Gefahr bringen sollte, Alkohol im besten Fall nicht mal schief von der Seite anschaut und nicht zu fröhlich auf Social Media posiert. Einem guten Opfer könnte eventuell noch geglaubt werden.

Täter-Opfer-Umkehr ist ein tiefsitzendes, strukturelles Problem

„Er war ein Junge, kein Krimineller. Er war derjenige, der alles verloren hatte. Ich war nur der Niemand, dem es passiert war.“ Chanel Miller beschreibt auf hunderten von Seiten immer wieder Prozesse der Täter-Opfer-Umkehr – ein Vorgehen, das sich strukturell durch die ganze Gesellschaft zieht. Es ist eine der zentralen Kernaussagen in „Ich habe einen Namen“. Das Victim-Blaming beginnt in Millers Fall mit den ersten Medienberichten. Reporter und Reporterinnen haben sich durch die Polizeiprotokolle gewühlt und stückelten sich ihre eigene Geschichte zusammen. Chanel Miller erlebte mit jedem Artikel, der den Täter Brock Turner entschuldigte, eine weitere Grenzüberschreitung. Die Mauern meines Lebens schienen niedergerissen zu werden und nun kam die ganze Welt hereingekrochen.

Die Kommentar-Foren im Internet halfen ebenso wenig. Warum war Chanel Miller, eine „Ehemalige“, überhaupt auf dem Campus unterwegs? Warum trank sie Alkohol? Warum wollte sie Turners Schwimmkarriere schaden? Ja, warum geht sie als Frau in der Nacht überhaupt vor die Tür? Schock machte sich bei Miller breit, als sie zum ersten Mal Kommentare wie diese unter einem Artikel über ihren Fall las. Der Unglaube, mit dem Opfer sexueller Gewalt von allen Seiten konfrontiert werden, sitzt tief. „Ich wusste nicht, dass eine Frau, wenn sie betrunken war, als es zur Gewalttat kam, nicht ernst genommen würde. Ich wusste nicht, dass er, da er betrunken war, als es zur Gewalttat kam, von den Menschen Mitgefühl erfahren würde. […] Ich wusste nicht, dass ein Opfer zu sein gleichbedeutend damit war, dass einem nicht geglaubt würde.“

In Chanel Millers Fall gipfelt die Täter-Opfer-Umkehr im Rechtssystem: Das Strafmaß, das der Richter nach jahrelangem Prozess gegenüber Brock Turner aussprach, war mehr als nur milde. Nach dem die Anklage für sechs Jahre plädierte, wurden im Urteil daraus sechs Monate Haft und drei Jahre Bewährung. Die Gründe dafür liegen am Profil des Täters: Ein junger, weißer Mann, der im Bereich Schwimmsport die große Newcomer-Hoffnung war. Der Richter wurde mittlerweile abgesetzt, die Gesetzeslage in Bezug auf sexuelle Straftaten im Staat Kalifornien verschärft.

Buchcover von "Ich habe einen Namen"

Ullstein Verlag

„Ich habe einen Namen“ von Chanel Miller ist im Verlag Ullstein erschienen und wurde aus dem Amerikanischen von Yasemin Dinçer, Hannes Meyer und Corinna Rodewald übersetzt.

Prädikat: Wichtig

Auf 480 Seiten erzählt Chanel Miller unter ihrem richtigen Namen ihre eigene Geschichte – und gleichzeitig auch die von Emily Doe. Sie holt sich damit ihre Stimme zurück, die jahrelang im Wahnsinn einer Gerichts-Farce verloren ging. Nicht nur einmal zieht sich der Magen beim Lesen des Buches zusammen, in den meisten Fällen vor Wut. „Ich habe einen Namen“ ist kein Easy Read zum Einschlafen. Es ist viel mehr ein Appell daran, Personen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, zu glauben. Gleichzeitig zeigt Millers Buch auch immer wieder die unsichtbaren Grenzen auf, mit denen Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft tagtäglich konfrontiert sind. Das fängt nicht nur im Fall der Autorin bei verbaler Belästigung wie Catcalling an; es hört zum Beispiel auch nicht bei Strategien auf, wie man am besten sein Getränk beim Fortgehen vor K.O.-Tropfen schützt. Etwas, das man als junges Mädchen schon früh lernt. Chanel Miller fragt in ihren Erzählungen nach all dieser Ungerechtigkeit und deren Ursprung. Und nicht nur deshalb ist „Ich habe einen Namen“ ein Must-Read für 2019.

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