FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Szene aus The Lighthouse

outnow.ch

FILM

Von „Midsommar“ bis „The Lighthouse“: Wie junge Kunstfilmer das Horror-Kino revolutionieren

Das düstere Kammerspiel „The Lighthouse“ setzt einen Trend fort: Mit gruseligen Genre-Verpackungen können künstlerische Regisseure ein größeres Publikum erreichen.

von Christian Fuchs

Wenn ein Löffelchen voll Zucker bittere Medizin versüßt, rutscht sie gleich noch mal so gut“ lautet eine der Schlüssel-Weißheiten aus dem Disney-Musical „Mary Poppins“ anno 1964. Dabei ist die Songzeile nicht nur für Millionen Eltern in aller Welt zu einer erzieherischen Inspiration geworden. Auch viele Regisseure griffen den Rat des magischen Kindermädchens auf.

Von Martin Scorsese über Bong Joon-Ho bis zu Lynn Ramsey, um nur ein paar Namen zu nennen, präsentieren Filmemacher*innen immer wieder subversive oder schwierige Inhalte in leichter zugänglicher Genrekino-Verpackung.

Zugegeben, auch für den Schreiber dieser Zeilen wirkt ein schmerzhaftes Psychodrama gleich attraktiver, wenn es als düsterer Thriller daherkommt. Suspense, Sex oder Schauwerte plakativer Natur können manchmal das Zuckerlöffelchen sein, um spröde Wahrheiten zu schlucken. Politische Botschaften verlieren ihre Aufdringlichkeit in greller Comedy-Kostümierung - oder im Gewand eines gruseligen Horrorfilms.

szene aus "Us"

outnow.ch

Wagnisse im Multiplex-Mainstream

Der afroamerikanische Komödiant Jordan Peele schaffte es mit seinem kleinen, aber gemeinen Regiedebüt „Get Out“ diesbezüglich 2017 gar an die Spitze der Box-Office-Charts. Dabei brachte der böse Horrorthriller auch einen Diskurs über Alltags-Rassismus in Gang - und hinterfragte die Weißbrot-Politik des gängigen Hollywood-Kinos.

Heuer ging Peele noch einen Schritt weiter. Und verkaufte den Massen eine surreale Reflexion über Klassenkonflikte, Kapitalismus und den amerikanischen (Alb-) Traum als hysterisches Home-Invasion-Movie. „Us“ scheint rückblickend betrachtend nicht gänzlich gelungen, die geballte Ambition schadet letztlich dem schlichten Spannungsfaktor. Trotzdem ist es beeindruckend, dass hier mitten im Multiplex-Mainstream ein Regisseur noch Wagnisse eingeht.

Entschieden weiter in ein künstlerisches Terrain wagen sich zwei der größten jungen Regietalente des US-Gegenwartskinos. Mit ihren grimmigen Debütstreifen „The Witch“ (2015) und „Hereditary“ (2018) katapultierten sich Robert Eggers und Ari Aster ins Zentrum der Internet-Aufmerksamkeit. Strenge Kritiker und auch Horror-Geeks rund um den Planeten feierten die Filme als dringend notwendige Blutauffrischungen für das erstarrte Gänsehaut-Genre. Inmitten halblustiger Retro-Schocker und Verbeugungen vor schaurigen Vorbildern verstörten Aster und Eggers mit todernsten Werken voller origineller Zugänge.

szene aus "midsommar"

outnow.ch

Junge Amerikaner und alter Schwede

Mit ihren heurigen Arbeiten offenbarten Ari Aster und Robert Eggers aber noch mehr von ihrer tatsächlichen Agenda. Das sommerliche Sektenepos „Midsommar“ und das jetzt anlaufende Gothic-Kammerspiel „The Lighthouse“ vereint, bei aller drastischen Unterschiedlichkeit, zum einen ein finsterer Witz. Ja, Aster und Eggers, die übrigens eng befreundet sind, haben den Humor entdeckt. Zum anderen haben wir es mit noch deutlicheren Fällen von filmischer Camouflage zu tun.

Denn die beiden vermeintlichen Horror-Shootingstars nennen auf die Frage nach ihren eventuellen Regievorbildern nicht einschlägige Namen wie John Carpenter, Sam Raimi oder Wes Craven. Stattdessen können sich Robert Eggers und Ari Aster auf den ikonischen Filmemacher Ingmar Bergman und dessen herbe Kinokunst einigen. In einem Podcast ihrer gemeinsamen Produktionsfirma A24 schwärmen die jungen Amerikaner hingerissen über den alten Schweden.

Das Indiewire-Magazin bringt anlässlich von „Us“, „Midsommar“ und „The Lighthouse“ einen passenden Begriff ins Spiel: Von einem „Trojanischen-Pferd-Ansatz“ spricht der Autor David Ehrlich. Denn Aster und Eggers hatten bei ihren neuen Arbeiten überhaupt kein Horrorkino im Sinn, bestätigen sie in Interviews, sondern eher Filme in der ambitionierten Tradition von Bergman, Roman Polanski oder David Lynch.

szene aus "the lighthouse"

outnow.ch

Morbides Kammerspiel, irrlichternd umgesetzt

Ari Aster etwa wollte nach „Hereditary“ ein komplexes Beziehungsdrama drehen, eine Art „Szenen einer Ehe“ im Millenial-Milieu. Weil ihm aber die weltweite Aufmerksamkeit als Genre-Innovator nach seinem gefeierten Debüt sehr wohl bewusst ist, ging er es anders an. Und lässt das junge entfremdete Paar in „Midsommar“ in einer schwedischen Sekte landen und seinen Film zu Folk-Horror-Thriller mutieren. Was uns den ungewöhnlichsten Indie-Schocker des Jahres bescherte.

Robert Eggers wiederum hatte bei „The Lighthouse“ noch radikalere Ideen als Ausgangspunkt. Eigentlich wolle er nur düstere, historisch akkurate Filme über die Vergangenheit machen, erzählt der Regisseur. Ein morbides Kammerspiel, das auschließlich in einem Leuchtturm spielt, mit Verweisen auf Herman Melville und Robert Louis Stevenson, gespickt mit uraltem Seemanns-Slang, wäre aber nicht finanzierbar gewesen. Noch dazu in Schwarzweiß und in einem beinahe quadratischen Filmformat.

Also baute Eggers im Sinn der Trojanischen-Pferd-Methode in seinen Streifen auch noch allerlei Wahnsinnigkeiten ein. Monströse Hommagen an den legendären Horror-Autor H.P. Lovecraft beispielsweise. Er lässt den jungen Leuchtturmwärter Ephraim irrlichternde Visionen erleiden, die ganz schön gruselig sind. Und mit Robert Pattinson und Willem Dafoe schlüpfen zwei souveräne Stars in die Hauptrollen, die sowohl im Arthouse als auch im kommerziellen Kino verankert sind.

szene aus "the lighthouse"

outnow.ch

Es ist die Mischung all dieser Elemente, die „The Lighthouse“ zu einem der Filme des Jahres macht. In einer Zeit der konfektionierten Seqels, Prequels und Reboots muss man Bilderstürmern wie Robert Eggers dankbar für bizarr-großartige Seherlebnisse sein. Dass der schrullige Regisseur neben Ingmar Bergmann auch total auf „Mary Poppins“ steht, schließt übrigens den Kreis zum Eingangs-Zitat. Her mit dem blutigen Löffelchen Zucker.

mehr Film:

Aktuell: