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Ein Mann hält sich am 9.11.1989 in Berlin an dem Schild mit der Aufschrift "Platz vor dem Brandenburger Tor" fest und schwenkt eine BILD Zeitung mit dem Titel "Geschafft! Die Mauer ist offen".

APA/dpa/Wolfgang Kumm

Todor Ovtcharov

Techno-Lenin

Vergangenen Monat waren es 30 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer. Ich spreche darüber mit Jana aus der slowakischen Stadt Kosice und gehe zu einer Technodemo mit meinem Freund Walter aus Graz.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Jana ist 53, im November 1989 war sie 23. Wie viele andere auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs hat sie geglaubt, dass sie für immer in der sozialistischen Tschechoslowakei leben würde.

Heute gibt es die Tschechoslowakei gar nicht mehr und Jana arbeitet als Altenpflegerin in Wien. Damals, im Jahr 1989, war sie eine junge Sekretärin bei der Polizei in Kosice. Sie war sozusagen im Vorhof der Macht, heute fühlt sie sich wie eine Dienerin des Kapitalismus. „Wenn man kurz vergessen kann, dass wir alle hinter dieser Mauer eingesperrt waren, haben wir eigentlich ganz gut gelebt! Niemand hatte nichts und trotzdem haben wir es irgendwie geschafft, ohne Neid zwischen uns. Und das Beste war, dass niemand arbeiten musste und wir trotzdem Gehälter bekamen! Eine wunderschöne Zeit!“

Jana beschreibt auch ihr heutiges Leben: „Ich habe keine Freunde, ich lache nie. Ich arbeite und arbeite weiter. Ich kann aber nicht mehr zurück nach Kosice, das ist schon lange nicht mehr meine Heimat. Ich bin überall eine Ausländerin, sowohl hier wie auch dort.“ Ich lade sie zu einer Technodemo ein, doch sie kann nicht kommen, da sie arbeiten muss.

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Ich gehe zur Technodemo mit meinem Freund Walter aus Graz. Als die Mauer fiel, war Walter gerade mal so wie ich drei Jahre alt. Diese Demo ist eine riesige Technoparade, die durch Wien zieht. Jede halbe Stunde erscheint im führenden LKW der Technokolonne ein tätowierter und überall gepiercter junger Mann, der die Raver zur Revolution anstiftet. Man soll gegen die gesamte Gesellschaftsordnung aufstehen: gegen die steigenden Mieten, die wir Normalsterbliche uns nicht mehr leisten können, gegen die inhumane Politik der geschlossenen Grenzen, gegen die Hetze auf Minderheiten, gegen soziale Kälte. Die Gesellschaft sei „verfault“. Eine Revolution muss her.

Vor dreißig Jahren zerfiel ein Regime, das durch eine Revolution an die Macht gekommen war. Ein Regime, das auch von Freiheit und Gleichheit gesprochen hatte. Nach seiner feurigen Rede fordert der Techno-Lenin die Demoteilnehmer zum Tanzen auf. Das ist viel leichter als eine Revolution. Köpfe und Bierdosen schaukeln im Takt. Auf den Gehsteigen stehen Hunderte von Polizisten, doch diese Protestierenden sind nicht gewaltbereit. Sie werden keine Autos anzünden und keine Schaufenster zerschmettern. Um 22 Uhr endet die Demo, alle werden die U-Bahn nehmen und nach Hause fahren. Dann werden sie ruhig in ihren überteuerten Wohnungen einschlafen. Sie werden all das sein, wogegen sie sind.

Das erinnert mich an einen Freund, der sich ein Haus in Bulgarien gekauft hat. Er hat sehr linke Überzeugungen. Er kaufte ein altes, heruntergekommenes Haus und heuerte Arbeiter an, um es zu renovieren. Er war aber nicht zufrieden mit den Konditionen, unter welchen die Arbeiter angestellt waren, und forderte sie zum Streik auf. Bis ihm einfiel, dass er ihr Arbeitgeber ist. Es war aber schon zu spät.

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