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Labour-Wahlkampfschild in Canterbury

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Wahlen in Großbritannien „ziemlich grimmig“

Bevor wir uns morgen darüber unterhalten, wie Jeremy Corbyns Labour Party den britischen Wahlkampf vergeigt hat, gibt es hier noch ein paar bedenkliche Dinge festzuhalten.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich habe mir gedacht, ich schreibe ihn doch noch, den kurzen Blog mit kurzem Ablaufdatum. Heute bin ich durch Canterbury Richtung Zug nach London geschlendert, vorbei an den roten Schildern in den Vorgärten: „Rosie Duffield“, „Vote Labour“.

Ein einziges Haus in unserer kreuzbürgerlichen Gegend hatte eine Werbung für die konservative Kandidatin im Fenster. Für die Liberaldemokratin schien überhaupt niemand werben zu wollen (ich kenn sehr wohl eine Familie, die liberal wählt, da hätt ich aber in die andere Richtung laufen müssen, um an ihrem Haus vorbeizukommen).

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Als ich 2004 aus London hierherzog, gab es vor den Wahlen noch reichlich blaue und gelbe Schilder hier. Ein einziges Haus in meiner Straße, dessen Bewohner ein rotes aufstellten, das dann regelmäßig des Nachts entwendet wurde. Seit 2017 haben wir eine Labour-Abgeordnete, der Tory, den sie mit einer Mehrheit von nur 187 Stimmen schlug, war seit 30 Jahren mit verlässlicher relativer Mehrheit im Amt, weil das anti-konservative Votum sich traditionell zwischen Labour und Liberaldemokrat*innen spaltete.

Labour-Wahlkampfschild in Canterbury

Robert Rotifer

Vor der heutigen Wahl gab es grobe Auseinandersetzungen zwischen den beiden Pro-Zweites-Referendum-Fraktionen. Tim Walker, ein Redakteur der Anti-Brexit-Zeitung „The New European“, wollte für die Liberaldemokrat*innen kandidieren, und der Zorn über die Verantwortungslosigkeit dieser Entscheidung, die einer konservativen Brexiteuse zum Sitz verholfen hätte, schien die Remainers des Wahlkreises erst recht hinter Labours Rosie Duffield zu vereinen. Walker bewies Lernfähigkeit, zog sich schließlich zurück und empfahl stattdessen seine Rivalin. Enttäuschenderweise schickten die Libdems an seiner Stelle noch eine Ersatzkandidatin ins Rennen. Wenn es diesmal wieder eng wird, ist das dieser Entscheidung zu verdanken.

Duffield ist das Musterbeispiel einer politisch moderaten, aber nicht ausgesprochen zentristischen, klar gegen den Brexit positionierten Parlamentarierin, die sowohl junge Linke als auch desillusionierte pro-europäische Tories anzusprechen vermag und heuer mit einer bewegenden, persönlichen Rede über selbst erlebten manipulativen Missbrauch in der Ehe Unterhausgeschichte machte. In anderen Worte: Sie verkörpert genau jene Kombination an Qualitäten, die Labour gebraucht hätte, um diese Wahlen zu gewinnen.

Ich schreibe „hätte“, denn obwohl sich aufgrund der fragmentisierten Arithmetik des Mehrheitswahlrechts nichts Genaues voraussagen lässt, gehe ich davon aus, dass der Mann, der sich gestern in einem Kühlschrank vor den Journalist*innenfragen versteckte, gewinnen wird. Der andere, dessen Rede selbst im konservativ bis liberalen Londoner Stadtteil Putney noch gestern Abend einen Massenauflauf anzog, wird dagegen nicht einmal theoretisch die Chance erhalten, in einem „hung Parliament“ ohne eindeutige Mehrheit einen Koalitionspakt anzuführen.

Es stünde mir den Regeln nach nicht zu, in Großbritannien sowas zu schreiben. Während die Wahl im Gange ist, hat man als öffentlich-rechtliches Medium nichts zu spekulieren. Das hinderte Laura Kuenssberg, die oberste Politikberichterstatterin der BBC, aber noch gestern nicht daran, in einem schnellen Live-Einstieg vom Rücksitz eines Autos Folgendes von sich zu geben:

„Die Wetterschau sagt, dass es morgen nass und kalt wird. Die Briefwahlstimmen sind natürlich bereits angekommen. Die Parteien sollten sich das eigentlich nicht ansehen, aber sie haben schon einen Eindruck, und auf beiden Seiten, sagen mir Leute, dass die Briefwahlstimmen für Labour in vielen Teilen des Landes ziemlich grimmig aussehen.“

Da, muss ich zugeben, blieb mir als Journalist dann doch die Lade offen. Kuenssberg hatte erst drei Tage zuvor ungeprüft eine von der Downing Street lancierte Falschmeldung verbreitet, wonach ein Labour-Aktivist einen Berater des Gesundheitsministers ins Gesicht geschlagen habe. Der Vorfall lenkte perfekt von der in der Yorkshire Post lokal und im Daily Mirror national gespielten, ursprünglichen Story ab: Über einen Vierjährigen, der in einem Spital in Leeds auf am Boden ausgebreiteten Decken liegen musste, weil es schlicht keine Betten mehr gab. Und Boris Johnson, der in einem Interview darauf angesprochen bloß frei der Empathie seine Stehsätze vom Brexit herunter ratschte.

Noch am selben Abend drohte Boris Johnson in einer Rede damit, die Rundfunkgebühren zu abzuschaffen. Ein vertrauensvolles Gemüt, das dabei keinen Zusammenhang herstellt.

Morgen werden wir also vermutlich – völlig zurecht – darüber reden, wie Labour diesen Wahlkampf vergeigt hat, und dazu wird mir einiges einfallen. Man wird aber auch wieder so tun, als sei im Grunde doch alles zivilisiert, und das Volk habe gesprochen. Die äußerst bedenklichen Details des schmutzigsten von acht Wahlkämpfen, die ich in diesem Land miterlebt habe (1992 als Urlaubsgast, 1997, 2001, 2005, 2010, 2015, 2017 und 2019 als Bewohner) werden unter dem staatstragenden Pomp und der Zeremonie von Angelobung und Antrittsreden vergessen werden.

Deshalb wollt ich das hier noch schnell untergebracht haben. Wir sehen uns morgen wieder (auch wenn vielleicht doch noch alles anders kommt).

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