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BBC Exit Polls auf Hausmauer projiziert

APA/AFP/Tolga Akmen

ROBERT ROTIFER

Nach den britischen Wahlen - Auf ins Little Britain

Wir kriegen fünf Jahre Boris, einen harten Brexit und vielleicht demnächst ein Little Britain ohne Schottland und Nordirland. Dahinter stecken aber noch einige andere Narrative. Versuch einer ersten Analyse.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Vorgestern erst hat Boris Johnson sich in einem Kühlschrank vor den Reportern versteckt, jetzt sieht er sich bestätigt in seiner Strategie: Wir bringen den Brexit fertig, sein ständig wiederholtes, hohles Versprechen, versetzt mit Schummelei (88,2 Prozent der Facebook-Anzeigen der Tories enthielten Unwahrheiten), unablässig verstärkt durch eine beinahe einstimmig pro-konservative Medienlandschaft bei gleichzeitiger Dämonisierung von Jeremy Corbyns Labour Party (zu deren eigener Schuld daran später mehr), kam bei 45 Prozent der Brit*innen an.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Dank dem britischen Mehrheitswahlrecht, das der oder dem Erstplatzierten im jeweiligen Wahlkreis einen Sitz einbringt, ergibt so ein Anstieg von 1,2 Prozent im konservativen Votum insgesamt eine satte Mehrheit im Unterhaus von rund achtzig Sitzen. Eine 52 Prozent-Mehrheit für Remain-ausgerichtete Parteien wiederum übersetzt sich in eine klare Parlamentsmehrheit für einen harten Brexit.

„Redcar into Bluecar“

Das ist im Prinzip nichts Neues, auch in Tony Blairs dominanter Phase in den Nullerjahren gab es nie absolute Mehrheiten, genauso wenig in der Ära Thatcher, die übrigens auch nicht weniger polarisiert war als die heutige.
Johnson aber ist es im Gegensatz zu Thatcher tatsächlich gelungen, seit Menschengedenken rote Sitze im proletarischen Norden Englands blau umzufärben. „We’ve turned Redcar into Bluecar“, witzelte er in den Morgenstunden. Redcar nahe Newcastle war eine der scheinbar unbezwingbaren historischen Labour-Hochburgen, die beim Brexit-Referendum 2016 mit großer Mehrheit für „Leave“ gestimmt hatten.

Boris Johnson

APA/AFP/Ben STANSALL

Dass die Labour Party es mit ihrer diesbezüglichen Wischi-Waschi-Linie nicht schaffte, die dortigen Wähler*innen zu überzeugen, ist verständlich.

Weder Corbyn noch andere Labour-Politiker*innen schienen fähig oder bereit, jenes wirtschaftlich weniger schädliche Austrittsabkommen glaubhaft zu beschreiben, das sie vor Abhaltung eines neuen Referendums auszuhandeln gedachten. Zu kommunizieren, warum eine Zollunion und eine Assoziation mit dem europäischen Binnenmarkt für die britischen Exporte so wichtig ist und der von Johnson angepriesene Freihandelsvertrag bei weitem kein Ersatz dafür sein kann.

Ja, sie ließen es zu, dass eine konservative Partei, die einen Kurs vertritt, der nach regierungseigenen Voraussagen einen Rückgang des BIP um 6,4 Prozent bringen wird, sich als Garantin einer „strong economy“ präsentieren konnte.

Dass aber die Labour-Stammwähler*innen im deindustrialisierten Norden so weit gingen, eine von einem elitären Eton-Schüler angeführte Tory-Partei zu wählen, die in den Achtzigern den Niedergang ihrer Region administrierte, ist alleinig der Tiefe der nationalistischen, fremdenfeindlichen Gefühle in der Bevölkerung zuzuschreiben.

Wie sangen schon The Mamas & The Papas? „All the leaves are brown...“ Äh, blue, meine ich...
Die romantische Verklärung der angeboren progressiven Northerners, des „salt of the earth“ mit dem großen Herz, muss jedenfalls endgültig verabschiedet werden.

In den Remain wählenden Gegenden im Süden haben die Konservativen indessen nicht allzu viel verloren, ja da oder dort sogar dazugewonnen, wie etwa im Londoner Stadtteil Kensington, wo sich die Remainers zwischen den Liberaldemokrat*innen und Labour spalteten.

Als im Oktober die Wahl ausgerufen wurde, hatte man noch gedacht, dass auf der anderen Seite des Spektrums die Brexit Party des Nigel Farage die Leavers ebenso spalten würde, doch dann zog Farage seine Kandidat*innen in konservativen Gegenden zurück und agierte damit de facto als Steigbügelhalter für Boris Johnson. Keinen einzigen Sitz hat seine Partei errungen, aber ein Adelstitel sollte für ihn nun zumindest drin sein.

Next exit: Nordirland und Schottland?

Bei den Liberal Democrats wiederum hat Spitzenkandidatin Jo Swinson, die am Anfang des Wahlkampfs so tat, als könnte ihre Partei die Mehrheit gewinnen, ihren eigenen Sitz verloren, und zwar im Wahlkreis von East Dunbartonshire in Schottland – ein Baustein des überwältigenden Siegs der progressiven Scottish National Party, auch auf Kosten von Labour und den Konservativen.

Nicola Sturgeon

APA/AFP/ANDY BUCHANAN

Nicola Sturgeon von der SNP freut sich

Ergo stehen wir jetzt vor den idealen Voraussetzungen für eine Spaltung des Vereinten Königreichs: Mit einem Schottland dominiert von separatistischen Remainers gegen eine auf Brexit eingeschworene britische Regierung in Westminster. Der schottische Ruf nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum wird ein sehr lauter sein.

Wobei auch in Nordirland die Democratic Unionists, die sich in Westminster auf einen Deal mit den Tories eingelassen hatte, schwer verloren haben, zugunsten der irisch nationalistischen Sinn Fein, die ihre Sitze in Westminster verweigert, aber auch der gemäßigteren SDLP und der Katholiken und Protestantinnen vereinigenden Alliance Party. Auch hier wird der Ruf nach einem vereinten Irland hörbarer werden. Auf Raten könnte der Brexit also wirklich noch ein Little Britain erschaffen.

Post-Corbyn

Die andere drohende Spaltung ist die der Labour Party. Jeremy Corbyn wird zurücktreten, das steht bereits fest, aber was sich in seiner Nachfolge abspielt, ist überhaupt nicht klar, denn unter den Comrades fliegen nach dem Fall des sogenannten „Red Wall“, der Roten Mauer im englischen Norden, die Anschuldigungen bereits in entgegengesetzte Richtungen:

Linke Leavers, die „Lexiters“, behaupten, die Zentrist*innen wären schuld gewesen mit ihrem Ruf nach einem zweiten Referendum. Die zentristischen Corbyn-Gegner*innen wiederum meinen, Labour habe sich mit seinem kultisch verehrten, aber in der weiteren Bevölkerung unpopulären Parteichef, seinen sektiererischen Tendenzen und nicht zuletzt seiner Unfähigkeit, den Vorwurf eines parteiintern grassierenden Antisemitismus abzuschütteln, auf entscheidende Weise unwählbar gemacht.

Jeremy Corbyn

APA/AFP/ISABEL INFANTES

Beide Seiten werden von ihren Standpunkten nicht abweichen, es wird eine Weile dauern, bevor wir eine neue, vermutlich weibliche Labour-Vorsitzende sehen werden. Boris Johnson hat einstweilen freie Hand in seinen Brexit-Verhandlungen, die nach einem Wahlkampf der leeren Slogans bald auf den harten Boden der Realität stoßen werden. Und dann wird er den Zorn seiner Wähler*innen ablenken, indem er sie zum Hintreten auf das nächste erhältliche weiche Ziel einlädt.

Eine Woche vor der Wahl sagte er bereits, die EU-Bürger*innen hätten Großbritannien schon viel zu lange „so behandelt, als sei es Teil ihres eigenen Landes.“ Es wird wieder ein Stückchen weniger lustig werden für unsereins, aber auch für Angehörige aller anderen ethnischen oder sonstigen Minderheiten.

Immerhin, zu meinem Trost ist „mein“ Wahlkreis Canterbury, wie gestern in meinem Vorwahl-Blog erhofft gegen den Trend ein einsamer roter Fleck im blauen Meer geblieben. Wegen der vielen Student*innen, Akademiker*innen und all der DFLs („down from London“), die so wie ich vor den hohen Hauspreisen Londons in die Pendler*innenexistenz geflüchtet sind.

Auch London selbst ist bis auf ein paar blaue und gelbe Tupfen im Westen und an den Rändern ein dicker roter Fleck in der Landkarte geblieben.

Im Kontrast zum Norden zeigt dies, dass Labour zwar die multikulturellen Metropolen hält, aber seine Working Class-Basis an den Rechtspopulismus verliert.
Also so wie die Sozialdemokratie überall sonst, bloß dass Labour (auch weil die britischen Greens vom Mehrheitswahlrecht diskriminiert werden) die beinahe ungeteilten Sympathien der Jungwähler*innen genießt. Unter Teenager*innen wird „Tory“ dagegen als ein Slang-Wort für „peinlich“ verwendet.

Schon wahr: Der vielfach angekündigte „Youthquake“ hat Labour auch diesmal wieder nicht gerettet, aber die erste Aufgabe von Corbyns Nachfolgerin wird sein, eine Spaltung zu vermeiden und das Vertrauen der Jugend in künftige Mehrheiten zu übersetzen. So groß die Versuchung auch sein mag, sich an die verlorene Stammwähler*innenschaft im Norden anzubiedern, mit einem nationalistischen Lexit-Kurs wird dieser Spagat nicht gelingen.

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