FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Flüchtlingslager Samos

Privat

Hilflos im griechischen Flüchtlingslager

Auf der Insel Samos, ein paar Seemeilen vor der türkischen Küste entfernt, sind hunderte Flüchtlinge gezwungen, unter erbärmlichen Bedingungen auszuharren. Athen setzt auf eine Abschreckungspolitik, um die Flüchtlingsankünfte unter Kontrolle zu bringen. Europa schaut weg. Die Fremdenfeindlichkeit unter den Einheimischen wächst parallel zur Unterbringungskrise.

Von Chrissi Wilkens

In Vathi, der Hauptstadt der griechischen Insel Samos, leben derzeit fast so viele Flüchtlinge wie die Stadt Einwohner*innen hat. Die Kapazität des dortigen Registrierungslagers, des sogenannten Hotspots, beträgt offiziell nicht einmal 700 Menschen. Im Lager, das am Rande der Stadt auf einem Hügel eingerichtet wurde, und drum herum leben jedoch mehr als 7.600 Flüchtlinge, viele von ihnen in improvisierten Zeltsiedlungen. Khalid ist ein junger Somali und hilft einem Mann aus Syrien, aus Hölzern eine Baracke im oberen Teil des informellen Lagers zu bauen - am Hang außerhalb des Hotspots, damit beide darin schlafen können. Er ist seit drei Monaten auf der Insel. Bis jetzt hat er in einem Zelt im unteren Teil des Hangs gewohnt. In der Baracke will er sich vor der Kälte schützen.

Flüchtlingslager Samos

Privat

Eines der größten Probleme auf Samos ist das lange Warten auf eine Mahlzeit, aber auch das Gefühl der Unsicherheit, sagt er. „Das Lager ist überfüllt und ich muss zwei oder drei Stunden in der Schlange anstehen, nur um eine Mahlzeit zu bekommen. Wegen der Bedingungen im Lager werden die Menschen hier sehr gewalttätig. Ich fühle mich deshalb nicht sicher“.

Im Oktober ist es zu Ausschreitungen zwischen Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan gekommen. Im Hotspot ist danach ein Feuer ausgebrochen. Hunderte Flüchtlinge mussten im Zentrum von Vathi Zuflucht suchen und haben tagelang auf Straßen und Plätzen übernachtet. Trotz dieser schwierigen Bedingungen findet man häufig Akte der Solidarität unter den Flüchtlingen vor. Das war auch der Fall bei Khalid und seinem zukünftigen Mitbewohner aus Syrien. „Wir haben uns ein paar Mal unterhalten. Anfangs war er überrascht, dass ein Afrikaner arabisch spricht. Dann haben wir uns entschieden, für den Bau der Baracke zu kooperieren“, erklärt er.

Flüchtlingslager Samos

Privat

„Ich bin allein mit meinem Kind und ich habe große Angst“

Besonders schwierig ist die Situation für alleinstehende Frauen und Mütter, die ebenfalls gezwungen sind, in Zelten zu leben, weil es im Lager keinen Platz gibt. Es gibt keine Tür zum Abschließen, nur einen Reisverschluss, der sie schützen muss. Halima ist vor ein paar Tagen mit ihrem kleinen Sohn auf Samos angekommen und lebt mit ihm in einem kleinen Zelt im unteren Teil des improvisierten Lagers. Die alleinerziehende Mutter gehört zu den sogenannten gefährdeten Gruppen, für die die Residenzpflicht, die seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals am 20. März 2016 gilt, aufgehoben werden kann.

Wie im Fall von Halima wird diese Regelung aber oft nicht umgesetzt, weil die Behörden die Menschen aufgrund des Personalmangels und der massiven Überbelegung des Lagers erst sehr spät registrieren. „Ich bin allein mit meinem Kind und ich habe große Angst. Selbst wenn wir drinnen im Zelt sind, habe ich Angst und deshalb schlafe ich nachts nicht“, sagt sie erschöpft.

Toiletten im Flüchtlingslager auf Samos

Privat

Erst vor kurzem haben die Ärzte ohne Grenzen (MSF) im oberen Teil des Lagers Toiletten und eine Wasserversorgung eingerichtet. Im unteren Teil, wo Halima und ihr Sohn ihr Zelt aufgestellt haben, gibt es nach wie vor nichts. „Erst nach elf Tagen konnte ich duschen“, sagt eine andere afghanische Frau aus dem Nachbarzelt. „Mein Kind war sechs Tage im Krankenhaus, weil es aufgrund der Bedingungen hier krank geworden ist. Viele unserer Kinder haben Durchfall!“, fügt eine andere Frau hinzu. Die Kinder strecken ihre Hände aus und versuchen, sich an einem kleinen Feuer zu wärmen, das die Männer angezündet haben. Aus den Müllsäcken nebenan springen Ratten heraus.

Entlastung der Lager auf den Inseln

Die Regierung in Athen hatte sich zum Ziel gesetzt, die Ägäischen Inseln bis Ende November von der großen Anzahl an Schutzsuchenden zu entlasten und einen großen Teil von ihnen in Lagern auf dem Festland unterzubringen. Im kommenden Jahr sollen 40.000 Asylbewerber*innen in Unterkünften im ganzen Land verstreut werden. Außerdem sollen bis Ende kommenden Jahres 10.000 Personen in die Türkei zurückgeschickt werden.

In den letzten Wochen sind die Transfers von Flüchtlingen von Samos auf das Festland allerding erheblich zurückgegangen. Laut Angaben des UN-Flüchtlingsrats wurden im Oktober 1.059 Asylsuchende von Samos ins Landesinnere gebracht. Im November waren es 458 Personen. Die Anzahl der Transfers hängt mit der Verfügbarkeit von Unterkünften auf dem Festland ab. Zurzeit gibt es auf Samos ungefähr 1.200 Menschen, bei denen die Residenzpflicht aufgehoben wurde, so dass sie theoretisch die Insel verlassen dürfen, um aufs Festland zu ziehen. Ihr Transport verzögert sich jedoch, da es keine verfügbaren Unterkünfte gibt.

Flüchtlingslager Samos

Privat

Unter den Flüchtlingen, die gezwungen sind, auf Samos unter diesen Bedingungen auszuharren, gibt es nach wie vor viele äußerst schutzbedürftige Menschen. Dazu gehören Männer und Frauen, die auf ihrem Weg nach Europa oder sogar innerhalb des Hotspots Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Die miserablen Zustände in den Lagern belasten die Psyche dieser Schutzsuchenden sehr, erklärt Cecilia Hernandez von Ärzte ohne Grenzen. Sie arbeitet in einer Klinik im Zentrum der Stadt, die sich unter anderem auch für Opfer sexueller Gewalt einsetzt. Das schlimmste sei, dass es keine unmittelbare psychologische Versorgung für die Schutzsuchenden gibt. „Es gibt viele Fälle, bei denen die Hilfe eines Psychiaters nötig wäre. Die Flüchtlinge haben Halluzinationen und viele psychische Probleme. Wir versuchen hier mit Psychiatern in Kontakt zu treten, sie geben uns einen Termin für übermorgen, obwohl die Menschen schon heute Hilfe benötigen“, sagt Cecilia.

Kaum ärztliche Versorgung im Hotspot

Laut Angaben des UN-Flüchtlingsrats gibt es zurzeit in dem Hotspot nur zwei Ärzte, zwei Krankenschwestern, einen Psychologen und zwei Sozialarbeiter. Tasia Theodoridou von der lokalen Bewegung für Menschenrechte, Solidarität für die Flüchtlinge, die auch Leiterin des Sozialdienstes im Krankenhaus von Samos ist, ist besorgt über den fehlenden Zugang vieler Schutzsuchenden zum Gesundheitssystem. Sie kritisiert vor allem die Entscheidung der neuen konservativen Regierung im Juli, den neu ankommenden Flüchtlingen keine Sozialversicherungsnummer, das sogenannte AMKA, auszustellen. Mit dem AMKA hätten sie Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. „Eine Umstrukturierung des Gesundheitssystems ist erforderlich, damit nicht nur die Bedürfnisse der Einheimischen, sondern auch die der Menschen, die für eine längere Zeit hier leben, abgedeckt werden“, sagt Theodoridou. Doch für die Regierung von Kyriakos Mitsotakis haben andere Pläne Priorität. Unter anderem will sie weitere geschlossene Lager auf den fünf Ägäischen Inseln schaffen, auf denen bereits Hotspots eingerichtet sind. Diese sollen in Einzelfällen auf eine Kapazität von bis zu 7.000 Menschen auslegt sein. Oppositionsparteien sowie Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass diese Pläne gegen das internationale und das europäische Recht verstoßen.

Flüchtlingslager Samos

Privat

Weitere geschlossene Lager auf den Ägäischen Inseln geplant

Ein paar Kilometer außerhalb von Vathi im Ort Zervou finden bereits die Bauarbeiten für die Errichtung eines neuen Lagers statt, das noch diesen Winter fertiggestellt werden soll.
Der Bürgermeister von Ost-Samos, Georgios Stantzos, lehnt die Einrichtung eines geschlossenen Lagers mit einer derartigen Kapazität in seinem Ort ab. Er drohte sogar mit seinem Rücktritt, falls die Regierung diesen Plan umsetzt. Die Ausgleichsmaßnahmen und neuen Arbeitsplätze seien nicht verlockend, betont er. Die Beschäftigung der Einheimischen solle sich auf Bereiche wie Tourismus und Landwirtschaft konzentrieren. „Wir wollen keine Jobs rund um den Flüchtlings- und Migrantenbereich. Es ist eine Arbeit, bei der es um menschlichen Schmerz geht. Wir verschließen die Augen nicht, es gibt ein Problem, aber wir wollen diese Arbeitsplätze nicht. Wir wollen, dass unser Leben so weit wie möglich zur Normalität zurückkehrt“, so Stantzos.

Am anderen Ende der Stadt, in einem ehemaligen griechischen Restaurant, bereiten freiwillige Helfer*innen zusammen mit Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern mehr als 600 Mahlzeiten zu. Sie sind vor allem für besonders bedürftige Flüchtlinge gedacht, die nicht stundenlang in der Schlage im Hotspot anstehen können. Diese Initiative geht vom sogenannten Armonia Projekt aus. Alle, die hier arbeiten, sind Freiwillige und die Mahlzeiten werden durch Spenden finanziert. Auch der 26-jährige Nima macht mit. Im Iran war er Journalist und Aktivist und musste aufgrund seiner politischen Ansichten fliehen. Er hat in Griechenland Asyl bekommen. Die wachsende Fremdenfeindlichkeit auf der Insel Samos und im restlichen Griechenland bereiten ihm Sorgen. Laut Umfragen ist derzeit die Migrationsthematik und nicht die wirtschaftliche Situation oder die hohe Arbeitslosigkeit das wichtigste Thema für die Griech*innen.

Flüchtlingslager Samos

Privat

Frage nach einer gerechten Flüchtlingsverteilung

Obwohl der sogenannte Balkankorridor seit mehr als drei Jahren geschlossen ist, betrachten die meisten Flüchtlinge Griechenland nach wie vor als ein Transitland, da sie hier wegen fehlender Leistungen auf sich selbst gestellt sind und sich zudem unerwünscht fühlen. „Die meisten Griechen wissen nichts über uns, weil sie wegen der Sprache nicht mit uns kommunizieren können. Sie denken, wir sind hergekommen, weil wir sie zwingen wollen Muslime zu werden. Oder sie meinen, wir wollen dauerhaft hier bleiben, oder einen Job hier finden. Aber ich sage ihnen, niemand möchte hier leben, wir möchten alle diesen Ort verlassen, aber wir können nicht“, sagt Nima.

Die griechische Regierung will das Problem zunehmender Flüchtlingsankünfte international lösen und setzt auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Die Forderungen nach einem angemessenen Verteilungsmechanismus der Flüchtlinge stoßen bis jetzt auf taube Ohren. Andere EU-Staaten sind nicht mal bereit, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Einen ersten Schritt zur Solidarität hat vorige Woche Frankreich unternommen, das unter anderem angekündigt hat, in den kommenden Monaten 400 Asylsuchende aus Griechenland aufzunehmen. Es handelt sich jedoch um eine sehr kleine Anzahl angesichts der Tatsache, dass Anfang Dezember und trotz der schlechten Wetterbedingungen durchschnittlich 210 Personen pro Tag von der türkischen Küste ankommen.

Deutschland hat sich vorige Woche entschieden, Waren im Wert von mehr als 1,5 Millionen Euro nach Griechenland zu schicken, um die Bedürfnisse von 10.000 Flüchtlingen zu decken. Es handelt sich dabei unter anderem um Betten und Decken. Doch die Flüchtlinge in Griechenland fordern keine Betten und Decken, sondern ein gerechtes europäisches Aufnahmesystem. Derzeit befinden sich alleine auf den Ägäischen Inseln mehr als 40.800 Flüchtlinge und auf dem Festland mehr als 71.000.

Flüchtlingslager Samos

Privat

Verschärfte Regeln beim Asylverfahren

Ende November gab die griechische Regierung bekannt, dass rund 67.000 Asylanträge offen seien. 15.000 weitere würden in zweiter Instanz bearbeitet. Im kommenden Jahr soll in Griechenland ein Gesetz umgesetzt werden, wodurch das Asylverfahren vereinfacht wird. Ziel ist, Schutzsuchenden, denen in erster Instanz kein Recht auf Asyl zugesprochen wurde, zurück in ihre Heimat zu schicken.
Sofia Lampiri, Anwältin bei der Organisation METAdrasi, betont, dass die neuen Rechtsvorschriften der Regierung den Rahmen für die Überprüfung von Asylanträgen erheblich verschärfen. Asylsuchende benötigen nun schon ab der Registrierungsphase rechtliche Unterstützung, was praktisch unmöglich ist.
„In erster Instanz gibt es sehr kleine Stufen, die im Wesentlichen einer systematischen Ablehnung gleichen. Dies wird auch zu einer psychischen Erschöpfung der Antragsteller führen und die griechische Verwaltung zusätzlich mit bürokratischen Verfahren belasten“, so Lampriri.

Aktuell: