Mit Kosteneffizienz durch die deutsche Hauptstadt
Von Philipp Emberger
Das Buch des 36-jährigen Berliner Autors Deniz Utlu beginnt rasant, mit einem Beinahe-Flugzeugabsturz. Gebeutelt von dieser Nahtod-Erfahrung beginnt der Ich-Erzähler Kara sein Leben infrage zu stellen und bisherige Lebensentscheidungen zu überdenken. In einer Wahnvorstellung im Flugzeug sieht er seinen verloren geglaubten Studienkollegen Ramón wieder. Den eigentlichen Plan, seine Freundin in Frankfurt zu besuchen, wirft er über den Haufen. Stattdessen macht er sich auf den Weg zurück nach Berlin, um sich dort, angetrieben von Zweifel, auf die Suche nach Ramón zu machen.
„Gegen Morgen“ kreist um die drei ungleichen Freunde Kara, Vince und Ramón. Während Kara und Vince ihr Volkswirtschaftslehre-Studium durchziehen, stolpert Ramón von einem Studienfach ins nächste. Er ist ein nicht nur im übertragenen Sinne geprügelter Charakter.
Kara und Vince leben in einer Studenten-WG. Ramón, der mit Migrationsgeschichte in Berlin aufwächst und von dort lebenden Nazis verprügelt wird, findet bei den beiden Zuflucht. Fortan ist er immer da. Zumindest physisch. Während Kara und Vince sich mit den Grundsatzproblemen ökonomischer Optimierung auseinandersetzen, vertieft sich Ramón in andere Bücher, die er in seiner durchsichtigen Tasche mit sich herumschleppt.
Suhrkamp
„Ramón bestand bei den Nachholklausuren ein Semester später einzig die Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Danach brach er ab und schrieb sich in Philosophie ein, kam aber dennoch täglich in unsere Fakultät und fuhr immer noch nach unseren, nicht nach seinen Vorlesungen mit Vince und mir nach Hause. Er schrieb keine einzige Hausarbeit und brach auch Philosophie ab, als wir gerade das Grundstudium beendeten.“
Ebenso wie der Ich-Erzähler studierte der Autor Deniz Utlu Volkswirtschaftslehre in Berlin. Diese Parallele ist an mehr als einer Stelle im Buch sichtbar. Eng verwoben mit volkswirtschaftlichen Theorien ist es Karas Job bei einer Versicherungsfirma, die die Kosten für den Wert eines Lebens zu berechnen. Zur Veranschaulichung gibt es unzählige grafisch aufbereitete Formeln, die fachkundigen Leser*innen vielleicht hilft, das Geschriebene besser zu verstehen. Für alle Anderen sind sie wohl mehr verwirrend als hilfreich.
„Lange sitze ich vor dem Bildschirm, bewegungslos. Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger, Hand. Meine Hand. Ich schlage die Notizen zu meiner Studie auf, aber da sind nur Buchstaben. Ich verstehe nicht, was sie ausdrücken. Was sind die Fixkosten eines Lebens? Was sind die versunkenen Kosten eines Lebens?“
„Gegen Morgen“ ist kein handlungsreicher Roman. Vielmehr sind es die Fragen, die den Leser*innen an den Kopf geworfen werden, die Denkprozesse auslösen sollen: Wer sind wir, dass es uns nicht berührt, wenn jemand aus unserem Leben verschwindet? Die surrealen Eindrücke des Ich-Erzählers gepaart mit einer komplexen Erzählstruktur, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen, machen es nicht immer einfach, der Handlung zu folgen. Wer aber bereit ist, sich mit dem Wert eines Lebens auseinander zu setzen, ist bei diesem Berlin-Roman gut aufgehoben.
Publiziert am 21.12.2019