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Once Upon a time in Hollywood

Sony

Kino 2019: Untergang der Antihelden

So unterschiedliche Filme wie "Once Upon a Time...in Hollywood“, "Parasite“, „The Irishman“ oder „Joker“ hatten heuer eines gemeinsam: Sie machen Schluss mit der Glorifizierung asozialer Außenseiter, von der vor allem das US-Kino so lange gezehrt hat. Ein Filmrückblick der anderen Art.

Von Christian Fuchs

Lange gaben die strahlenden, unerschütterlichen, moralisch integren Helden im Mainstream-Kino den Ton an, dann kamen die Antihelden. Zuerst schockte die französische Nouvelle Vague Anfang der 60er Jahre mit misanthropen Figuren und kleinkriminellen Gangsterpärchen als Identifikationsfiguren. Dann kamen die New Hollywood-Regisseure der 70er Jahre und vermischten den rebellischen Zeitgeist mit Outlaw-Mythen aus der Western-Geschichte.

Eigenbrödler, Mafiosi und Misfits standen im Zentrum von Filmklassikern von Terrence Malick, Francis Ford Coppola oder Martin Scorsese. Gebrochene, neurotische, gefährliche Existenzen wurden romantisiert. In den 90ern, während Grunge-Rock aus vielen Boxen dröhnte, glorifizierten Filme wie „Natural Born Killers“ oder „The Silence Of The Lambs“ sogar Massenmörder als exotische und exzentrische Figuren. Und in den Nuller Jahren regierten gewalttätige Antihelden, in Gestalt verkleideter Vigilanten wie Batman, die Multiplex-Kinos.

Szenenbild "Der goldene Handschuh"

Gordon Timpen / 2018 bombero int./Warner Bros. Ent.

„Der goldene Handschuh“

Grausige Antithese zum Killerkino

Alle, die Film auch als subversives Medium begreifen, zu dem die Gefahr untrennbar gehört, schlugen sich natürlich weitgehend auf die Seite der (fast immer männlichen) Desperados auf der Leinwand. Im Kino lässt sich schließlich auch mit Charakteren ein Pakt schließen, die man ich echten Leben als ernste Bedrohung oder wandelnde Zeitbombe empfinden würde. Nicht nur meine Wenigkeit hat wohl unzählige BluRays im Regal, in denen es vor wilden, wirren und wahnwitzigen Protagonist*innen wimmelt.

Irgendwann hatte ich aber das Gefühl, dass etwas gekippt ist - und die Verklärung menschlicher Abgründe zur bloßen Masche mutierte. Passend zu einer Gegenwart, in der zwischen Hass-Postings, Fake-News und Empathie-Verlust der Glaube ans „Gute“ gegen den ironischen Zynismus längst verloren hat. Und dann ließen 2019 einige Filme alles wieder in einem anderen, bewusst unangenehmen Licht erscheinen.

Der Hamburger Horrorfilm „Der Goldene Handschuh“ wirkte heuer etwa wie die grausige Antithese zum plakativen Serienkiller-Kino. Auf den Spuren des realen Frauenmörders Fritz Honka ist Regisseur Fatih Akin ein umstrittenes Drama gelungen, das die Opfer ins Zentrum der Geschichte hebt. Gleichzeitig wird auch der monströse Täter als leidendes Wesen portraitiert. Aber ganz sicher nicht als herrlich gruseliger Kinderschreck à la Hannibal Lecter.

Still aus Joker

Warner Bros.

„Joker“

Ein Clown mit soziopathischen Zügen

Kontrovers war auch einer der erfolgreichsten Filme des Jahres. Der „Joker“ bewies, dass Comickino auch ganz anders sein kann. Weit weg vom kindlichen Marvel-Universum und seinen bombastischen Endgames präsentierte Todd Phillips die erwachsene Geschichte eines geprügelten Außenseiters – der zum überlebensgroßen Bösewicht wird.

Joaquin Phoenix spielt diesen Arthur Fleck so mitreißend, dass wir manchmal seine verengte und verrenkte Perspektive verstehen. Verherrlicht wird in der stockdüsteren, sozial verwahrlosten Welt dieses Films aber nichts und niemand. Man muss schon selber soziopathische Züge haben, um den Joker als Idol zu verehren.

Ganz deutlich hat sich der „Joker“ auf das Frühwerk von Martin Scorsese bezogen. Im Gegensatz zu Robert De Niro als paranoider „Taxi Driver“, der noch eine gespenstische Coolness verstrahlt, torkelt Phoenix aber als abgehalfteter Clown durch die Gosse. Sogar Michael Moore, der Veteran des linken Doku-Aktivismus, feiert den Film als bissige Satire auf den aktuellen politischen Niedergang Amerikas.

"The Irishman"

© Netflix

„The Irishman“

Gefühlstote Männerbünde und mörderische Langhaar-Kinder

Martin Scorsese selbst präsentierte einen grimmigen Abgesang auf seine Art von Trademark-Mafiakino. Nach dreieinhalb Stunden „The Irishman“ sieht man all die strengen Paten, lustigen Koksnasen und grell gekleideten Hitmen, die sich seit „Good Fellas“ durch das Kino schießen, mit anderen Augen. Nämlich als stumpfen, spießigen und gefühlstoten Männerbund mit brutalem Ablaufdatum.

Noch eine brutale Abrechnung mit Außenseitern konnte man heuer im Kino sehen. Quentin Tarantino kehrte zurück ins Jahr 1969 und knöpfte sich den Mythos rund um die gespenstische Manson-Family vor. Trotz der grausamen Morde an Schauspielerin Sharon Tate geisterten der Sektenguru und sein Anhängerinnen stets als furchteinflößende Facette der Hippiebewegung durch die Popkultur. In „Once Upon A Time…in Hollywood“ werden Charlie und seine mörderischen langhaarigen Kinder lächerlich gemacht, entzaubert und aus der Geschichte gelöscht.

There is no sympathy for the devil: Das gilt auch für „Lords of Chaos“, Jonas Åkerlunds schonungslose Aufarbeitung der norwegischen Blackmetal-Szene. In Craig R. Zahlers unterschätztem Sozialthriller „Dragged Across Concrete" folgt man zwei moralisch bankrotten Cops so tief in den Abgrund, dass das Wort" Antiheld“ eine neue Bedeutung bekommt. Und M. Night Shyamalan zeigt in „Glass“ eine Gruppe Comic-Bösewichte auf höchst ambivalente Weise.

Szenenbild "Parasite"

Filmladen

„Parasite“

Outsider, Anarchisten, beklemmende Sekten

Auch Filme, die das Anders-Sein im positiven Sinn zelebrieren, tauchen tief in Grauzonen ein. Jonah Hill feiert in seinem Regiedebüt „Mid90ies“ zwar die Skaterbuben der Grungeära, vergisst aber nicht auf ihre sexistischen Seiten. So wie Matthew McConaughey in Harmony Korines „The Beach Bum“ gleichzeitig als lustiger Outsider und ganz schön fieser Anarchist in die Kamera grinst. Umgekehrt wirkt die beklemmende paganistische Sekte in Ari Asters Meisterwerk „Midsommar“ manchmal fast bezaubernd in all ihrer befreiten Blumenpracht.

Einer der vielschichtigsten, klügsten und formal umwerfendsten Filme 2019 vermischt gänzlich die Grenzen zwischen Außenseitern und braven Gesellschaftsmitglieder. In „Parasite“ vom südkoreanischen Übertalent Bong Joon Ho sind alle parasitär, ob Reich oder Arm. Der Kapitalismus und seine Verlockungen zwingen die Figuren in asoziale Richtungen. Für freiwilligen radikalen Nonkonformismus ist in diesem Film kein Platz mehr.

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