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Demonstranten der Brexit Party im März 2019

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

It’s (almost) 2020 - jetzt nur nicht feig sein.

2019 in Großbritannien war ein Jahr wie eine streitsüchtige, neurotische Beziehung im Endstadium. 2020 können wir uns keinen Fatalismus leisten.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich habe einen Wunsch für 2020, und ich weiß, er wird in Erfüllung gehen. In diesem kommenden Jahr, so viel ist sicher, wird niemand mehr eine politische Unerträglichkeit sexistischer, rassistischer oder sonst wie gestriger Art mit der in verschiedenen Sprachen und Varianten erhältlichen Feststellung „Es ist 2019!“ aus der Welt wünschen können.

Ein Jahr lang hab ich mir, wann immer ich „FFS, it’s 2019!“ oder dergleichen las, fest auf die Zunge gebissen bzw. meine zittrigen Finger gezügelt, weil ich natürlich verstand, wie rechtschaffen der Hinweis auf das Kalenderdatum gemeint war, aber rückblickend auf diese misslungene Sonnenumkreisung müssen wir uns dieser Wahrheit stellen:

Die wachsende Bigotterie, der Brexit, Boris Johnson, Bolsonaro oder welche Bescheuertheit auch immer euch gerade beschäftigen mag, sind in mindestens demselben Maße charakteristisch für 2019 wie das, was unsereins sich von der Evolution der Menschheit zu erhoffen berechtigt sähe.

Britische Touristinnen lesen die Sunday Times-Überschrift am Pariser Gare du Nord

Robert Rotifer

Britische Touristinnen lesen die Sunday-Times-Überschrift am Pariser Gare du Nord: „‚Wirf mich raus, wenn du dich traust‘, sagt Johnson der Königin“, Oktober 2019

Ganz typisch 2019 war zum Beispiel das, was Stormzy kurz vor Weihnachten passierte. Da wurde er von der italienischen Zeitschrift La Repubblica gefragt, ob Britannien ein rassistisches Land sei. „Definitiv, hundertprozentig“, antwortete Stormzy.

Und die Überschrift, die die Fernsehsender ITV und Sky News, sowie das Revolverblatt The Sun daraus bastelten, war: „Stormzy sagt, das UK sei zu hundert Prozent rassistisch.“

Hungrig nach dem nächsten Hot Take

Klassisch 2019 eben, ein Jahr wie eine streitsüchtige, neurotische Beziehung im Endstadium, in der jede*r jedes Wort bis zum Wirbelbruch verdreht, stets auf der Suche nach der möglichst destruktiven Auslegung, hungrig nach dem nächsten kontroversen „hot take“ (krampfhaft originellen Zugang), wo und wann immer auch nur die geringste Aussicht auf Konsens aufzukommen drohte.

Alles, nur um Himmels willen nicht nachfragen, ob Stormzy mit dem tatsächlich Gemeinten nicht schlicht und einfach recht hatte. Denn ja, Großbritannien war auch nach meinem Empfinden 2019 noch ein gutes Stück rassistischer, sexistischer, xenophober und grundsätzlich minderheitenfeindlicher geworden als zuvor, nicht zuletzt wo die bevorzugte Wortwahl des gerade gewählten Premierministers die Grenzen des diesbezüglich Duldbaren neu gesteckt zu haben scheint.

Demonstration gegen rassistische Attacke in Canterbury, Juni 2019

Robert Rotifer

Antirassistische Demonstration nach einer beinahe tödlichen Attacke auf einen libanesisch-stämmigen deutschen Austauschschüler in Canterbury, Juni 2019

Wenn Boris Johnson Sorgen über Morddrohungen und Hassangriffe gegen Parlamentarier*innen als „Humbug“ verwarf oder wenn er sagte, EU-Bürger*innen hätten das UK „zu lange so behandelt, als wäre es Teil ihres eigenen Landes“, dann braucht es kaum zu wundern, wenn die Leute sich zur Nachahmung ermutigt fühlen.

Zugegeben, das Jahr 4 des Brexit war auch nicht frei der Hoffnungsmomente. Eine Million demonstrierte für ein zweites Referendum, und noch im Menschenmeer kam der Gedanke auf: „Sowas hab ich doch schon einmal hier erlebt. Ach ja genau, damals 2003 vor dem Irak-Krieg, wie war das noch gleich ausgegangen?“

“Machhiavellanischer Abschaum, Schande über euch!”, steht auf dem Plakat dieser Demonstrantin am Marsch für ein 2. Referendum, Westminster im März 2019

Robert Rotifer

„Machiavellanischer Abschaum, Schande über euch!“, steht auf dem Plakat dieser Demonstrantin am Marsch für ein zweites Referendum, Westminster im März 2019

Immerhin, allerdings, es war auch das Jahr, zu dessen Anfang ich mir vom britischen Staat meinen Settled Status bestätigen ließ - diese Aufenthaltserlaubnis für EU-Bürger, zu der die Innenministerin Priti Patel immer so schön „EU SS Scheme“ sagt.

Bleiben dürfen, aber nicht wissen, ob man eigentlich noch bleiben will.
Noch weniger wissen, wohin man sonst gehen wollte.
Gleichzeitig aber schon auch dabei sein wollen, wenn die, die dank des archaischen Mehrheitswahlrechts und der Schlagseite der Medienlandschaft nun endgültig gewonnen haben, endlich kriegen, was sie wollen.

Denn falls es noch wen interessieren sollte, wie Boris Johnson im Dezember die Wahl gewonnen hat, die Bestseller-Autorin Caitlin Moran hatte es mir eigentlich schon im Jänner schlüssig erklärt, als er noch lange nicht an der Macht war:

„Ich habe lange gedacht, dass es nicht so schlimm werden würde", sagte sie damals, „Aber ich glaube jetzt, dass es noch ein gutes Stück schlimmer werden muss. Wir werden den Brexit durchmachen, die Leute werden leiden und das Land wird zehn Jahre durch die Abflussrohre robben müssen, bevor wir uns wieder daran erinnern, warum wir all diese Verbindungen aufgebaut und Konversationen geführt haben. Es scheint derzeit einfach nicht möglich, zu den Leuten vorzudringen, weil wir leider an einem Punkt der Internet-Ära angelangt sind, wo man Gedanken mit Emotionen verwechselt. Es ist ganz egal, was für Fakten man präsentiert und welche Karten auf dem Tisch liegen, die Leute werden sagen: ‚Fuck it! Let’s just do it. Ziehen wir’s durch.‘“

Caitlin Moran

Robert Rotifer

„Das Land wird zehn Jahre durch die Abflussrohre robben müssen“, Caitlin Moran, Jänner 2019

Genau so haben die Leute am Ende gedacht, und genau so wird es sein, aber selbstgefälligen Fatalismus können wir uns deshalb noch lange nicht leisten. Das Jahr 2019 in Großbritannien, es endet mit Geschichten von rassistischen Übergriffen auf der Straße im ganzen Land, man hört’s nicht in den Nachrichten, aber es sickert durch, und wen trifft er immer, der von oben legitimierte Volkszorn? Nicht mich, ganz ehrlich, sondern vor allem die an Hautfarbe, Kleidung oder Akzent erkennbar „Fremden“.

Demonstranten der Brexit Party im März 2019

Robert Rotifer

Brexit-Anhänger*innen demonstrieren auf der Whitehall, März 2019

2020, das ist übrigens mein zweiter Wunsch, könnten wir vielleicht endlich das werden, was wir schon die ganze Zeit über sein hätten sollen, in der britischen Parallelgesellschaft, nämlich Verbündete.

Das ist, wofür „FFS, it’s 2020!“ stehen sollte und nicht für ein selbstherrliches Postulieren eines bereits stattgefundenen Fortschritts, den wir uns verdient zu haben glauben.

2020 wird sicher kein leichtes Jahr. Nur feig dürfen wir jetzt auf keinen Fall sein. Und gerade deshalb, auch weil ich diese Frage bei meinem Wien-Aufenthalt zu Weihnachten so oft zu hören bekam: Nein, Weglaufen geht auf gar keinen Fall.

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