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Grimes

Grimes

Don’t do it yourself - Pop und künstliche Intelligenz

Der FM4-Im-Sumpf-Jahresrückblick 2019 inklusive Charts von Thomas Edlinger, Fritz Ostermayer und Katharina Seidler

Von Thomas Edlinger

Woodie Guthrie und seine Gitarre mit dem Sticker "This machine kills fascists"

Al Aumuller / NYWT&S staff photograph / Library of Congress / Wikimedia Commons

„This machine kills fascists“: Ein Sticker mit dieser Botschaft fand sich in den 1940er Jahren auf der Gitarre von Woodie Guthrie. Jahrzehnte später tauchte der Spruch auf einem schwarzen T-Shirt auf. Er bezog sich aber nicht auf eine Gitarre, sondern auf den T-Shirt-Aufdruck mit der graphischen Darstellung eines Synthesizers. Im Jahr 2019 schließlich erfuhr der Zusammenhang von Popkultur, Technik und Politik einen neuen Dreh. Zola Jesus nannte ihre Kollegin Grimes „die Stimme der faschistischen Privilegierten aus dem Silicon Valley“.

Claire Boucher alias Grimes ist mit dem Paypal-, Tesla- und SpaceX-Gründer und Milliardär Elon Musk liiert und hatte zuvor in einem Interview ihre Zukunftsvision der Popkultur verkündet. Live-Konzerte würden bald obsolet sein, Künstliche Intelligenzen würden die neuen Herausforderungen von Wissenschaft und Kunst beherrschen und schon bald viel bessere Kunst als die der Menschen in die Welt setzen.

Tatsächlich ist die Künstliche Intelligenz ein fast schon überstrapaziertes Schlüsselwort der Gegenwart. Niemand kommt mehr an ihr vorbei. Das Internet der Dinge ist schon längst in uns, um uns und um uns herum. Hallo Smartphone, servus Alexa, grüß dich Amazon. Die künstliche Intelligenz wird längst nicht mehr vorrangig beforscht, sondern implementiert. Dafür braucht es weniger Innovation als Daten in großer Zahl. Zum Beispiel in den futuristisch designten Autos von Elon Musks Vorzeigekonzern Tesla. Die Elektrofahrzeuge werden als dauerhafte Betaversionen ausgeliefert – auf dass die Käuferinnen ihre online gestellten, durch die Nutzung des fahrenden Computers anfallenden, wertvollen Daten wieder einspeisen. So entsteht consumer generated content, der nebenbei die teure Entwicklungsabteilung einspart. Gratis versteht sich – natürlich minus der Energiebilanz für die Feedbackschleife.

Auch beim Musikhören arbeiten wir brav mit. Während intelligente Playlists lernen, nicht nur unseren Geschmack, sondern auch unsere Launen und Stimmungen zu deuten und uns in mancher Hinsicht schon jetzt besser kennen als wir uns selbst, wird die Künstliche Intelligenz zu einem neuen Instrument. Musizierende Forscher wie David Cope haben schon vor Jahren Programme entwickelt, die in the style of Bach, Mozart oder wem auch immer Kompositionen errechnen, die auch Klassikexpertinnen nicht mehr von ihren Vorbildern unterscheiden werden können. 2020 wird Beethovens Zehnte Symphonie, die bislang nur in Fragmenten vorhanden war, als ein von einer KI zu Ende geschriebenes Werk in Bonn zur Uraufführung kommen.

Auch in der Popkultur halten viele große Stücke auf den creativity code, der es ermöglichen soll, dass Maschinen selbstständige Schöpfer werden und nicht bloß das machen, was man ihnen sagt. Der Taschenrechner in der Hand hat ausgedient. Das neue Ideal bei den Holly Herndons und anderen Frontfiguren der algorithmischen Offensive ist die Verschwesterung von Chor und KI, Körper und Kilobytes. Herndon nennt das statt „independent music“ „interdependent music“.

Die Autonomie galt lange als die Errungenschaft der modernen Kunst, die sich von früheren Abhängigkeiten von Kirche oder Hof befreit hatte. Schon klar, Selbstbestimmung ist besser als Fremdbestimmung. Aber der Glaube an die Autonomie wurde selbst zum Fetisch, der in Substraten wie der Indiemusik fortlebte. Er ist schon deshalb ein fiktionales Ideal ist, weil wir selbst nicht einmal über uns bestimmen. Außerdem macht kulturelle Selbstversorgung nicht unbedingt frei, sondern herrisch, egozentrisch und einsam. Wir alle brauchen Resonanz, wie das Soziologen nennen: Etwas muss zurückkommen.

Außerdem hat die Autonomie auch im anderen Leben viele falsche Freunde. An wirtschaftliche und kulturelle Autonomie glauben heute nicht nur liberale Weltbürgerinnen, sondern auch viele Neoisolationisten, die die heimatliche Scholle gegen das Andere abschotten wollen. Die Interdependenz hingegen verweist auf eine Einsicht, die sich nicht nur in der Kunst durchgesetzt hat. Es gibt nur so etwas wie relative Autonomie, ein Ringen in Bezug auf etwas, zum Beispiel eine Institution, einen Markt, eine Industrie oder einen Ort.

In der Ansage Interdependenz Now! steckt nicht nur die Nähe zu Netzwerktheorien, sondern auch eine Kränkung. Wir sind nicht mehr das, was wir einmal zu sein glaubten oder sein wollten. Wir sind nie allein auf dieser Welt gewesen und müssen erklären, was und warum ein „Wir“ ist, das sich von einem „Ihr“ unterscheidet. Das gilt für mehr als die Identitätspolitik im üblichen Sinn. Die Unterschiede zwischen Mensch, Technik und Natur werden in der „Technosphäre“ des Anthropozäns problematisch.

2012 haben sich viele noch über die Forderung der damaligen documenta-Leiterin nach einem Wahlrecht für Erdbeeren lustig gemacht. Heute wird in politikwissenschaftlichen Konferenzen die fehlende Perspektive eines Bergs aus den Anden beklagt, wie mir ein Freund neulich erzählt hat. Und niemand lacht.

Die schöne neue Welt der Algorithmen tut hingegen oft so, als käme sie aus dem politischen Nichts. Als gäbe es so etwas wie neutrale Eingaben ohne algorithmic bias. Als könnte eine Superintelligenz Gott spielen oder den verwaisten Thron des gottgleichen Kunstgenies neu besetzen. Als existierte ein superintelligentes, supergefühlsechtes Werk im luftleeren Raum, nur abhängig von der Menge und Qualität von Nullen und Einsen, die in den deep learning-Idealvorstellungen von anderen Nullen und Einsen angeleitet werden, sich selbst in ungeahnte, nicht vorprogrammierte Zukünfte zu öffnen.

Die Spekulationen über die Simulation des Faktors Mensch gehen jedenfalls weit. Vielleicht kann man KIs auch Störungen und Gestörtheiten antrainieren. Sounds, die nach Depression oder Liebe klingen. Stimmungen, die man ansteuern kann: heute bitte Prozac um 4 Uhr am Klo im Club, morgen Todesangst einer 85-jährigen Ex-Punkmusikerin, übermorgen Nick Cave am 10. Todestag seines Sohns. Trial and Error. Und ja: Beethoven wird vielleicht noch eine Elfte Symphonie geschrieben haben, die von einer KI in Holly Herndons Computernetzwerk wachgeküsst worden sein wird.

Werden wir uns aber noch dafür interessieren, was dahinter steckt? Wen wird es kümmern, ob solche hypercleveren Programme von einer Inderin in prekären Verhältnissen oder von einem Kalifornier mit „silicon fascist privilege“ geschrieben werden? Werde ich ein anderes Werk hören als du, weil jeder Herndon-meets-Beethoven-Verschnitt auf ein spezifisches Daten-Ich hingetrimmt wird? Wird das Stück um 9 Uhr morgens anders klingen als um Mitternacht? Und wer wird wissen, wer für das Werk die Aktienmehrheit besitzt?

Im Sumpf Jahrescharts 2019

Thomas Edlinger

1. Damon Locks Where Future Unfolds
2. Sharon Van Etten Remind Me Tomorrow
3. Nick Cave Ghosteen
4. Stefanie Schrank Unter der Haut eine überhitzte Fabrik
5. Ela Orleans Movies for Ears
6. Caterina Barbieri Ecstatic Computation
7. 75 Dollar Bill I Was Real
8. Hilgur Gudnatdottir Chernobyl
9. Düsseldorf Düsterboys Nenn mich Musik
10. Sote Parallel Persia

Fritz Ostermayer

1. Big Thief Two Hands
2. Ela Orleans Movies For Ears
3. Yves Jarvis The Same But By Different Means
4. Sharon Van Etten Remind Me Tomorrow
5. Christian Scott aTunde Adjuah Ancestral Recall
6. WOW Come la Notte
7. Klein Lifetime
8. Zonal Wrecked
9. Liturgy H.A.Q.Q.
10. Nick Cave & The Bad Seeds Ghosteen

Katharina Seidler

1. Slowthai Nothing great about Britain
2. Bendik Giske Surrender
3. Mo Nahold Tremors
4. Jenny Hval The practice of love
5. Die Türen Exoterik
6. Girl Band The Talkies
7. Caterina Barbieri Ecstatic Computa​tion
8. Helado Negro This is how you smile
9. Imposition Man s/t
10. Deichkind Wer sagt denn das?

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