Ariadne von Schirach über ihr Buch „Die psychotische Gesellschaft“
Von Boris Jordan
Ariadne von Schirach, Philosophin und Hochschullehrerin, widmet sich in ihrem neuen Buch „Die psychotische Gesellschaft“ erneut dem Zustand der Menschen und ihrem Verhältnis zu sich und zur Welt. Obwohl es den Menschen – vor allem im Westen – materiell immer besser geht, empfinden so viele ein Unbehagen und eine Unzufriedenheit, die zu einem „psychotischen Zustand der Gesellschaft“ geführt hat und in dem sie „weder wissen, wer sie sind, noch was sie sollen und deshalb unfähig sind, mit sich und miteinander bewusst, wertschätzend und angemessen umzugehen“ (AvS) und auch auf die essenziellen Herausforderungen der Gegenwart – Klimawandel, Artensterben, Umweltzerstörung etc - nur unzureichende Antworten finden.
Doch „jede Krise trägt in sich die Möglichkeiten einer neues Ordnung“, schließt die Autorin mit ungebrochenem Optimismus und Glaube an die Potentialität des menschlichen Geistes – schließlich verspricht der Untertitel des Buches eine Antwort auf die Frage „Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden“.
FM4 hat Ariadne von Schirach zum Interview gebeten
Boris Jordan: Sie diagnostizieren der westlichen Gesellschaft eine Psychose. Warum?
Ariadne von Schirach: Das Wort Psychose hat antike Wurzeln, es kommt eigentlich von psyche = Seele und -ose = entzündlich oder virulent werden. Wir leben hier, in Österreich und auch in Deutschland, in einem unglaublichen Wohlstand und haben trotzdem immer größere innere Probleme. In Deutschland haben wir identitäre Bewegungen, wir haben ein Auseinanderklaffen von Reichen und Armen, von Alten und Jungen, von Weltanschauungen, gesellschaftlich funktioniert irgendetwas nicht, wir haben alles und wir sind so unglücklich. Deshalb habe ich mir gesagt, dass es Zeit ist nach innen zu blicken, dass die Krise, die wir gerade sehen, eine innere Krise ist.
FM4 Dunkle Seiten
In den ersten zwei Jännerwochen widmen wir uns den „Dunklen Seiten“. Also Büchern, die düster, gruselig, schaurig, beängstigend oder verstörend sind.
Das Virulent-Werden unserer Seele ist ein anderer Ausdruck dafür, dass sich die Frage nach dem Menschen dringend stellt: Was wollen wir hier auf der Erde, wie wollen wir leben, wo ist unsere Rolle als Spezies? Die Aufklärung hat das schon einmal gefragt, und jetzt müssen wir nochmal fragen: Was ist denn der Mensch, was soll er denn sein? Soll er so viel Müll machen? Muss er sich die Erde untertan machen oder soll er vielleicht zusammenleben? Und das ist der eigentliche Moment der „psychotischen Gesellschaft“, ein Übergangszustand, wo wir so nicht mehr weitermachen können, so gierig, ewiger Fortschritt, so geht das nicht – und gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, wie es besser weitergeht. Und das ist eigentlich ganz hoffnungsvoll, der Untertitel meines Buches heißt nämlich: „Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden“.
Ich spreche jetzt mal altmodisch vom „Kapitalismus“, der recht viele psychische Krankheitsbilder befördert. Dem US-Präsidenten wird etwa oft Narzissmus diagnostiziert, Rücksichtslosigkeit und Psychopathie, Mitleidlosigkeit - diese Merkmale werden oft als Vorteil angesehen: Jemand, der das hat, kommt weiter. Es gibt auch autistische Tendenzen, glaube ich, all das wird befördert und belohnt in der Konkurrenzgesellschaft. Alle diese Diagnosen sind aber individuell, wie kann eine Gesellschaft solche Krankheitsbilder haben?
Hier geht es um Denkfiguren. Wir wissen zum einen: Wir Menschen machen diese Gesellschaft. Die Gesellschaft macht auch uns. Jeder junge Mensch lernt erst einmal in der Kultur, wo er gerade ist, was da so gedacht oder gemacht wird. So geht die Gesellschaft wirklich weiter hinein in den Einzelnen. Gleichzeitig hat die Gesellschaft ein Leben, das die Einzelnen überdauert, wie ein Haus, das auch länger besteht als die Menschen, die schneller sterben. Die Diagnose der „psychotischen Gesellschaft“ bezieht sich eigentlich auf dieses Haus. Es geht nicht nur um den „bösen“ Kapitalismus, denn ich würde sagen, es ist unser „lieber“ Kapitalismus, den haben nicht die Außerirdischen auf der Erde abgesetzt, sondern er ist eine Organisationsstruktur, für die wir Menschen uns entschieden haben, die gewisse Vorteile bringt und total verrückt wird, wen man sie auf alles anwendet.
Ein Hospiz mit Gewinnerwartung zu führen oder einen Staat wie ein Unternehmen ist totallly fucking crazy, es ist aber sehr schön, dass es den Supermarkt gibt. Die Wurzel des Kapitalismus ist so etwas wie Arbeitsteilung. Da müssen wir sozusagen einen geistvollen Blick darauf werfen. Das Krisenhafte jetzt betrifft eigentlich das Haus, das diese Gesellschaft ist. Es hat der Kunst nicht gutgetan, dem Kunstmarkt, dass es nur noch ums Geld geht, es hat dem Gesundheitswesen nicht gutgetan und, oh mein Gott, es hat auch den Unis nicht gutgetan. Die hässliche kleine Schwester der Ausbreitung des ökonomischen Denkens ist eine perverse Bürokratie und ein unglaublicher Verwaltungsaufwand. Du bist heute an der Uni ein Drittel deiner Zeit mit Drittmitteln beschäftigt und ein anderes Drittel mit der Dokumentation von dem, was du machst, genauso im Gesundheitswesen. Der Moment, wo das überhandnimmt, ist der Moment, wo sich das System gegen sich selbst wendet. Das betrifft sozusagen die Architektur des Hauses.
Es gibt noch eine schöne Metapher, wenn wir von dem Haus reden: Wir wissen alle, wie ein vernünftiges Haus ausschaut. Es gibt eine Küche, ein Bad, verschiedene Räume haben verschiedene Qualitäten. So ist es auch in der Gesellschaft: Du kannst nicht mit der gleichen Logik über Kunst reden wie über Bildung oder Kindererziehung. Wenn alles nur noch nach ökonomischen Prinzipien von Gewinnmaximierung und Profitstreben und Optimierung und Vergleichbarkeit organisiert wird, geht die Eigenlogik der Zimmer verloren. Das ist so, als würde sich das Haus in eine riesige Lagerhalle verwandeln. Die haben wir jetzt auch überall, da kommen unsere ganzen Pakete her. Das ist ein Moment, wo das, was eine Gesellschaft für ihre Mitglieder ist, ein Ort, in dem sie wohnen können, wo es Identität gibt, nicht mehr funktioniert.
Würden Sie sagen, dass all dies einem „Naturell“ des Menschen nicht entspricht, würden Sie auf einen Urzustand der Kooperation und Solidarität verweisen?
Nein, das sind Fiktionen. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass wir auf jeden Fall „übende Tiere“ sind. Wir lernen von der Gesellschaft, was man gerade macht und nicht macht. Man muss sich auch bremsen. Ich glaube, ein Mensch zu sein, bedeutet, sich immer wieder neu entscheiden zu müssen. Es gibt so eine Geschichte zur Frage, ob der Mensch gut oder böse sei, da sagt jemand: „Der Mensch hat zwei Tiere in sich, ein gutes und ein böses.“ “Und Welches Tier ist jetzt stärker?“ „Das, das du fütterst.“
Die Essenz der menschlichen Freiheit, dass wir uns immer wieder neu entscheiden müssen, die gilt es zu verteidigen. Darunter können wir es leider nicht machen. Dass es uns glücklicher macht, zu geben als zu nehmen, dass tiefe menschliche Beziehungen – das hat eine Studie der Harvard Universität herausgefunden – uns glücklicher machen als Status, sogar als Selbstverwirklichung – all diese Dinge wissen wir schon. Aber kein Kitsch: Wir sind sowohl eigennützig als auch gemeinnützig. Wir haben Probleme mit einem System, in dem es nur noch um die Oberfläche und nur noch um den Profit geht. Wir brauchen etwas davon, aber nicht alles.
Sie haben sich bereits in zwei Büchern auf ähnliche Weise mit dem Zustand der Menschen auseinandergesetzt. In einem ging es um Sexualität und die Tatsache, wie obgenannte Dinge auch Sex und Liebe kaputt machen. Im zweiten, das „Du sollst nicht funktionieren“ heißt, findet sich schon die Kritik an der Konkurrenzgesellschaft. Ist dieses Buch nun sozusagen das abschließende dritte Buch?
Das hat mich echt seit zwanzig Jahren beschäftigt. Damals war ich noch in der Schule, plötzlich gab es diese T- Shirts, auf denen „Sexy“ stand oder, für Männer, „Stecher“, und da dachte ich: „Woah, habt ihr den Verstand verloren, das ist ja voll peinlich.“ Aber auch schrecklich! Da hab ich mich gefragt: Was passiert mit uns, wenn wir unser Begehren zu Markte tragen? Und „Du sollst nicht funktionieren“ fragt, was mit uns passiert, wen wir den ganzen Rest auch noch zu Markte tragen, unsere sozialen Beziehungen, unseren Umgang mit uns selbst, lauter Sachen, die einen Wert haben, aber keinen Preis. Was passiert, wenn wir uns selbst anfangen zu beziffern? „Die psychotische Gesellschaft“ ist sozusagen der halboptimistische Abschluss, der sagt: OK, wir können sagen, dass es uns nicht bekommt, gleichzeitig ist da ein Leidensdruck - hier kommen wir auch wieder zu Trump, zu einem Clown wie Boris Johnson, zur brennenden Erde: Früher war Macht ja versteckt und musste schwer angegangen werden, heute ist alles sehr offensichtlich. Das ist beängstigend, darin liegt aber auch eine Chance.

Tropen
Ariadne von Schirach: „Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden“ ist als Tropen Sachbuch erschienen.
Ich glaube mich zu erinnern an das Konzept der „kognitiven Dissonanz“, dass man Dinge sieht ...
... aber nicht auf sich bezieht, ja. Die Kognitive Dissonanz ist gerade sehr stark. Wir haben diese komische Parallelität: Uns geht es supergut und irgendwie sind wir existenziell bedroht. Diese zwei Informationen kommen nicht ganz zusammen. Wie ist das jetzt: Stehen wir kurz vor der Auslöschung durch Klimakrise oder leben wir in unglaublichem Wohlstand und müssen schauen, dass wie noch mehr Zeug anhäufen? Bei der westlichen Weltanschauung - darum geht es im Buch auch - gibt es eine eingebaute kognitive Dissonanz. Beim Leben in seiner Vielschichtigkeit und Fülle haben wir oft nur darauf geachtet, was für uns drinnen ist. Wir haben den Körper vernachlässigt, die Gefühle, die Erde, die Frauen, all diese Sachen melden sich wieder. In der Gleichzeitigkeit von all den Riesenproblemen und dem Konsum, der doch weitergeht, liegt eine riesige Chance, so ein paar grundlegende Verhältnisse, die damit zu tun haben, wer wir Menschen eigentlich sind, nochmal neu zu denken. Das macht Angst, wenn die alten Geschichten nicht mehr greifen und die neuen noch nicht da sind – ist aber auch die Chance, angemessenere Geschichten zu erzählen.
Eine der tieferen Kritiken an einer rein ökonomisch orientierten Lebensform ist der am Versuch der Berechenbarkeit der Zukunft mit Planungssicherung, Big Data, Überwachung, Nudging und so weiter. Ich glaube ja: Jeder Morgen ist neu, jeder Tag ist frisch, es ist nix verloren, die Offenheit der Zukunft – das betrifft die Fähigkeiten der jungen Leute – ich bin schon nicht mehr jung, ich bin 41 -, die jetzt aufwachsen, sich in der Welt zurecht zu finden. In der Welt Sinn zu machen, Vertrauen zu haben, das ist wirklich wichtig.
Wir Menschen sind kreative Kreaturen, wir finden Wege, wir müssen auf eine neue Weise auf der Erde leben, mit der Natur zusammenleben, Plastik endlich wieder eindämmen. Wenn du als Einzelner eine Psychose hast, kommst du da selber nicht runter, weil ein Teil das Problems ist, dass du nicht mal checkst, dass du krank bist. Organisch zeigt sich die Psychose als Dopaminflut. Dopamin ist ein Botenstoff, der für gute Gefühle zuständig ist, aber auch für die Unterscheidungsfunktion. Du kriegst Medikamente, die dir helfen, das Dopamin zu regeln. Gesellschaftlich wäre das Äquivalent, dass wir eine demokratische Selbstregulierung brauchen, von der Finanztransaktionssteuer über die CO2-Steuer bis hin zu Gesetzen, die uns helfen, den ganzen Verpackungsscheiß zu reduzieren. Du kannst kollektive Probleme nicht auf den Einzelnen abwälzen, das ist neoliberales Denken.
Da erfordert es aber Politik, es erfordert ein gewisses Handeln. Sie sagen im Buch einmal, es fehle dem Psychotiker an der Außensicht. All diese Probleme, die sie aufgezählt haben, sind auf einer kognitiven Ebene bereits gelöst: Wir wüssten eigentlich, wie es geht, wir wüssten, wie die Energieumstellung funktionieren würde, wir wüssten, wie man menschliche Beziehungen gestaltet, dennoch tun wir es nicht.
Das ist der überlebenswichtige Punkt! Es gibt einen guten Satz von Karl Valentin, der lautet: „Es ginge – es geht nicht.“ Und jetzt sind wir in einer Verantwortung auch den Jungen gegenüber, wo „es geht nicht“ keine gute Antwort mehr ist. Ich bin echt nicht so ein politischer Mensch, aus vielen Gründen, das geht mir auch auf die Nerven, es ist mir aber klar geworden, dass wir in einer Zeit leben, in der man sich vor der realen Weltbürgerschaft – die eine bescheidene Mitgliedschaft in der Spezies ist und nicht mehr dieser „Krone der Schöpfung“-Shit – nicht mehr verschließen kann. Besonders wir im Westen nicht: Hier reden zwei privilegierte Leute miteinander, wir sind die, die noch sprechen können, die noch handeln können, mein Haus ist nicht weggeschwemmt, weil der Meeresspiegel steigt. Die große Welle der Ökonomisierung ging ja von uns aus, wir sind jetzt die, die allen voran aufgefordert sind, aufzuräumen. Auch unsere Generation. Es ist unfair, das denen aufzubürden, die jetzt zwanzig sind, wir sind Generation X, wir haben nicht so viel geleistet, jetzt wird’s mal Zeit, demütig aufzuräumen, nicht sexy, aber notwendig.

Radio FM4
Das Interview mit Ariadne von Schirach gibt es auch hier im FM4 Interview Podcast
Sie empfehlen eine „poetische Revolution“?
Eine Psychose ist eine Geisteskrankheit. Und die Essenz einer Geisteskrankheit ist der Verlust von Geist. Geist ist das, was uns Menschen befähigt, zwischen verschiedenen Existenzebenen zu vermitteln. Wir haben einen Körper und eine Innenwelt, wir sind frei, aber auch unfrei. Die Totalität eines Prinzips ist genau das, was eigentlich verrückt ist.
Die Grundidee einer Psychose als der des Verlusts dieses unterscheidenden Geistes birgt auch ein Nachdenken über die Heilung. In dem Buch gibt es einen philosophischen Teil, das Theoretische, aber es gibt auch was Praktisches, Kurzgeschichten. Das ist schon etwas Poetisches. Wie kommt man aus dem psychotischen Zustand raus? Heilung ist das Finden eines neuen Sinns.
Wir brauchen keine andere Welt. Wir brauchen ein anderes Bewusstsein der Welt. Die Änderung des Bewusstseins ist auch eine Änderung des Handelns. Es sind unglaubliche Dinge schon gegangen, es ist eine Mauer gefallen, es wurde Frieden gemacht, wir dürfen diese Hoffnung nicht aufgeben und die Verantwortung genauso wenig, dass wir es sind, die diese Veränderung bewirken. Poetische Revolution bedeutet: Wir fangen jetzt nicht nochmal neu an. Das waren immer so Männergeschichten. Wir können auch keinen neuen Planeten suchen. Wir müssen das nehmen, was wir haben, und wir müssen es aufräumen. Das Aufräumen fängt damit an, dass wir eine neue Wertschätzung finden. Das schulden wir nicht nur der nächsten Generation, sondern auch uns selbst.
Publiziert am 16.01.2020