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FM4 Artist of the week: Nicolas Godin

Verträumter, melancholischer Elektropop - das erwartet man von dem französischen Duo Air. Nicolas Godin ist Architekt und eine Hälfte des Duos. Sein zweites Soloalbum „Concrete and Glass“ nimmt Meilensteine der modernistischen Architektur zum Ausgangspunkt.

Von Natalie Brunner

„Concrete and Glass“ ist ein Konzeptalbum über Architektur oder wie es unser Artist of the week Nicolas Godin selbst formuliert: Es sind musikalische Variationen über architektonische Bezugspunkte. „Du schaust dir an, was dich inspiriert und beschreibst es mit Sounds,“ meint er zu seiner Vorgangsweise.

Godin nennt seine Kompositionen „Architect Tunes“ – Stücke über das Schaffen von bedeutenden Architekten. Bauwerke von Le Corbusier, Piere König und Mies van der Rohe sind auf „Concrete and Glass“ zum Beispiel mit einem Stück bedacht. Im Song „The Border“ etwa geht es um den Pavillon, den Mies van der Rohe in den 1920er-Jahren in Barcelona gebaut hat und der lediglich aus drei oder vier Mauern besteht. In „Cité Radieuse“ um das gleichnamige Bauwerk von Le Corbusier in Marsielle. Der Name des Albums „Concrete and Glass“ verbindet die so unterschiedlichen architektonischen Meister, die Godin verehrt: Sie haben alle mit Beton und Glas gebaut.

„Concrete and Glass“ also. Ich erwarte bei diesem Titel sehr konzeptuelle elektronische Musik, wie WARP Records sie Mitte der 90er veröffentlicht hat. Allerdings ist Nicolas Godin am Werk, daher kann das natürlich nicht sein. Vielleicht haben diese Assoziationen damit zu tun, dass mein Vorstellungsvermögen gerade für die räumliche Erfassung des günstigsten Fertigteilhauses reicht und nicht für die ätherischen und doch fest verankerten Beton-Glas-Licht-Kombinationen, die er als Ausgangspunkte für die Tracks seines zweiten Soloalbums erwählt hat.

Nicolas Godin

Because Music

„Concrete and Glass“ ist am 24.1.2020 via Because Music erschienen

Nicolas Godin hat in seinem früheren Leben, das mit der Veröffentlichung von Airs sensationellem und verdientermaßen global erfolgreichen Album „Moon Safari“ 1998 geendet hat, Architektur studiert, und zwar in Versailles. Wenn meine biographischen Berechnungen stimmen, dürfte der 1969 geborene Musiker auch fast fertig geworden sein. Ich gestehe ihm auf jeden Fall zu, dass er eine Ahnung hat von dem, was er da komponiert, auch wenn der Sound seines zweiten Soloalbums „Concrete and Glass“ mein persönliches Konzept von Minimalismus erweitert. In der Info zu der Platte konkretisiert und relativiert Godin den Begriff Minimalismus: Die Stücke sind mit minimalistischer Präzision montiert und von Popwärme erfüllt.

Bevor ich mich weiter in einem Feld verliere, von dem ich keinen Plan habe, nämlich im Beschreiben von Musik mit architektonischen Begriffen, schnell eine brutal banale Anmerkung zu „Conrete and Glass“ im mir typischen „vergleichen, was nicht verglichen werden kann“-Sprachgestus: „Concrete and Glass“ klingt so wie „Moon Safari“, wenn man es heute machen würde.

Genauer gesagt: „Moon Safari“ abzüglich eines gewissen Prozentsatzes des Soundtrackhaften Schwelgens und der rückwärtsgewandten, romantischen Verzückung. Das ist gut für mich, weil ich mochte dieses erste Air-Album sehr gerne, kann aber den süßen Kitsch nicht mehr als jenen ungewohnten Einbruch in meine Hörgewohnheiten wahrnehmen, der er damals, Ende der 90er Jahre, aus dem Land des Gitarren-Feedbacks kommend, war. Außerdem weiß ich von mehreren Kindern, die zu dieser Musik gezeugt wurden, und das belastet ebenfalls meinen Hörgenuss.

Nicolas Godin benutzt einen Grundriss, auf dem bereits ein Monolith steht, er zitiert sich selbst, es schließt sich ein Kreis. Er ist nun wieder am Eingang der Modellhaussiedlung, die er Ende der 90er Jahre mit seinem Air-Partner J.B Dunckel begonnen hat zu entwerfen.

Nicolas Godin

Nicolas Godin

Godin und Cola Boyy im Studio

Godins Kollaborationspartner Cola Boyy, wohnhaft im Dunstkreis des monströsen Architekturparadies Los Angeles, hat in seinen eigenen Nummern einen euphorisch verschmitzten und zerstückelten Disco-Entwurf, den ich schon bei einigen Zeit-, Orts- und Weggefährten von Air wie DJ Falcon oder Thomas Bangalter, wahrnehmen konnte. „The Foundation“ heißt die Nummer, in der Cola Boyy und Nicolas Godin beide am Mikro und durch den Vocoder zu hören sind. Godin kann variantenreich Hauchen und Flüstern. Cola Boyy ist mehr Herr des Grooves.

Zu Beginn der Zusammenarbeit hat Godin Cola Boyy tatsächlich ein Haus gezeigt, erzählt er im Interview: „Pierre Koenigs Case Study House #21 war der Ausgangspunkt für diesen Song. Zumindest habe ich ihm als Vokalisten des Tracks die Musik so präsentiert. Ich erzählte von den architektonischen Ursprüngen des Projekts und erklärte ihm, dass er seine Inspiration für den Text freilaufen lassen solle. Ich war immer schon der Meinung, dass ein Konzept immer der perfekte Weg ist, eine Platte zu beginnen, aber bald darauf muss man die Musik dann die Oberhand gewinnen lassen.“

Das L-förmige Case Study House #21, auch bekannt als Bailey Haus, steht in Los Angeles und ist bis auf die Straßenfassade komplett transparent. Der modernistische Klassiker wurde 1959 fertig gestellt und kostete 20.000 US-Dollar.

Nicolas Godin

Camille Vivier

Das Haus ist ein Geniestreich, ich würde jederzeit sofort einziehen und kann mir auch vorstellen, die Nummer „The Foundation“ in Dauerschleife zu hören, weil ich zu faul bin, mich in dieser Sonnengeküssten Umgebung irgendwie zu bewegen. Aber die Verbindungslinien Haus-Raum-Musik nachzuvollziehen bin ich nicht in der Lage. Sehr wohl aber kann ich das Album in Verbindung mit Los Angeles bringen, denn es hat etwas Monströses an sich, das unerwartet Schönheit in sich trägt zwischen Wüste und Meer. Das ist der Bass, der Pulsschlag der Nummer „The Boarder“.

Ich will wissen, ob Nicolas Godin mit Grime-Producern und -MCs common ground findet, weil auch sie sich an Architektur abarbeiten, allerdings an urbaner Architektur, die viele aussperrt - Festungen und Gefängnisse aus „Concrete and Glass“. Er kann solchen gegensätzlichen Architektur-Kontextualisierungen etwas abgewinnen: „Es ist immer der Ort, woher du kommst, der deine Weltsicht und Zugangsweisen prägt.“ Du kannst einen Mann aus Versailles holen, aber nicht Versailles aus einem Mann.

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