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Bushaltestelle in schwarz-weiß

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mit akzent

An der Haltestelle des Lebens

Ob von einem gescheiterten Maler, einem Dichter oder einem singenden Finnen - all diese Lebensgeschichten bekommt man an einer Bushaltestelle in Sofia zu hören.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Ich fühle mich wie Tom Hanks. Nein, ich bin weder reich noch bekannt. Ganz das Gegenteil. Ich bin komplett anonym, fühle mich aber trotzdem genau wie Tom Hanks im “Forrest Gump”. Nur in seinem Fall hat er seine unglaubliche Geschichte Passanten erzählt und ich höre nur solchen Geschichten zu. Ich sitze auf der Bank einer Bushaltestelle in Sofia.

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Mit Akzent: Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Alle Folgen der Kolumne gibt es hier als Podcast.

Zuerst setzt sich ein Mann, der sehr stark nach Schnaps riecht neben mich. Instinktiv versuche ich mich von ihm zu entfernen. Er fängt an zu reden und ich bin nicht sicher, ob er meine Anwesenheit überhaupt bemerkt hat. Er erzählt mir, dass er vom frühen Kindesalter an immer das Malen liebte. Schon im Kindergarten wurde sein Talent entdeckt. Danach gewann er alle mögliche Malwettbewerbe für Kinder mit dem Thema: „Eine glückliche Zukunft“. Auf einem dieser Wettbewerbe hat ihn ein weltberühmter Maler umarmt und „unsere Hoffnung“ genannt. Danach kam er in die Kunstakademie. Die Modelle dort liebten ihn so sehr, dass sie ihm vorschlugen, dass er sie ohne Bezahlung malt. Ihm wurde danach ein hoher Staatspreis verliehen. Danach haben ihn alle beneidet. Selbst diejenigen, die ihm den Preis verliehen hatten. Um den ganzen Neid zu verkraften, fing er an zu trinken. Und so trank er immer mehr, bis er eines Tages nicht mehr malen konnte. Seine Hände zitterten, er verkaufte sein Atelier und trank weiter. Jetzt wohnt er auf der Straße. Er schlägt mir vor, dass er mich malt. Ich habe aber keinen Bleistift und kein Papier und er auch nicht. Auf einmal ist der Schnapsgeruch weg. Der Mann, der vielleicht ein Maler war, ist auch verschwunden.

Neben mir sitzt jetzt ein Mann mit dicken Brillengläsern, der mich freundlich anlacht. Er sagt, er schreibt lustige Gedichte und schlägt vor, mich zu erheitern, wenn er mir ein paar Gedichte vorliest. Seine Stimme ist sehr laut und in seinen Gedichten geht es um Vampire, die niemandem Angst machen können. Auf einmal ist der Dichter weg. Ich sah nicht wie, aber ist einfach verschwunden.

An seiner Stelle sitzt ein Finne, der mongolische Steppenlieder singt. Er verließ seine nördliche Heimat, um der Frau seines Lebens in die Mongolei zu folgen. Dort verlor es sie für immer. Jetzt lernt er bulgarische Volkslieder. Zuerst singt er mir ein finnisches Lied über ein Pferd in einem eisigen Dorf vor. Ich verstehe weder Finnisch, noch Mongolisch, deshalb singt er mir danach ein anderes Lied auf Bulgarisch vor - aus den Rhodopen. Er singt über verlorene Liebe und Tod.

Die Busse kommen und gehen, der Finne verschwindet auch. Und ich weiß nicht mehr, ob ich auf etwas warte oder nicht.

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