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070 Shake

Def Jam

artist of the week

070 Shake: Rap, kinematisch wie ein Nolan-Film

070 Shake gilt spätestens seit ihrem Feature auf Kanyes „Ye“ als eine der spannendsten Künstlerinnen im Rap-Game. Mit ihrem Debüt-Album „Modus Vivendi“ hat die junge Künstlerin bewiesen, dass ihre Musik viel mehr ist als ein vorübergehender Hype. Unser Artist of the Week.

Von Melissa Erhardt

Als 070 Shake auf die Bühne kommt, sind die Konzertbesucher*innen im Berliner Nachtclub Bi Nuu schon längst bereit für die junge Künstlerin. Im Club, der nur 500 Personen fasst, beginnt sich ein Sprechchor zu formen: Eine Hälfte ruft „070“, die andere Hälfte antwortet mit „Shake“. Eine kurze Begrüßung, dann das Intro „Don’t Break The Silence“. Daraufhin folgt eine Show, die energiegeladener nicht sein kann. Ruhigen Tracks und einer Schweigeminute für Kobe Bryant folgen Moshpits, bei denen Schuhe verloren gehen und der ganze Club nach Luft ringt. „It smells really bad in here“, sagt 070 Shake nach nicht ganz zwei Stunden Ausnahmezustand.

070 Shake bei einem Live-Auftritt

Melissa Erhardt

070 Shake, das ist Danielle Balbuena, Tochter einer dominikanischen Migrantin, aufgewachsen in North Bergen, New Jersey, einem der bevölkerungsreichsten Stadtteilen der Staaten. Mit ihrem Debütalbum „Modus Vivendi“ war die junge Amerikanerin gerade auf Europatour, nach ein paar Tagen Verschnaufpause geht es in Nordamerika ab 5. Februar weiter. Wenn sie bei jeder Show so viel Kraft und Energie hineinsteckt wie bei dieser in Berlin, kann sie diese Pause mehr als gut gebrauchen.

2016 noch als „random“ Support Act von The 1975 auf Tour, erlangte Danielle Balbuena 2018, als sie durch eine glückliche Reihung von Zufällen schon längst bei Kanye West’s G.O.O.D. Music unter Vertrag war, zum ersten Mal einen kleinen Mainstream-Breakthrough. Auf Kanye West’s viel debattiertem Studioalbum „Ye“ wurden jene zwei Songs, auf denen die 22-Jährige ein Feature hatte, als die besten des Albums gerankt. Ihre Performance auf dem Song „Ghost Town“ wurde von einigen Magazinen sogar als Höhepunkt des Albums bezeichnet. Wieder zwei Jahre später hat die als queer gefeierte Rapperin, die sich selbst aber nicht als queer bezeichnen will, endlich ihr Debütalbum herausgebracht.

HipHop Lesekreis: 070 Shake und ihr Debütalbum 'Modus Vivendi'

Die Kunst, die überdauert

Balbuena begann schon früh damit, ihren aufgestauten Emotionen auf eine besondere Weise Raum zu bieten. In der Schule tat sie so, als ob sie von dem, was die Lehrer sagten, Notizen machen würde, um zu kaschieren, dass sie eigentlich Gedichte niederschrieb. In Interviews erzählte sie, dass das Aufschreiben von Poesie eine Art Droge für sie war, eine Flucht vor der realen Welt:

The only way I was able to express how I was actually feeling was through writing. I couldn’t really tell anybody because I had to maintain a tough image.

Wer Shakes Musik heute hört, erkennt sehr schnell die beiden Welten, in denen sie sich bewegt und die sie in ihrer Kunst prägen. Zuerst ist da natürlich die Außenwelt, eine monotone, oft triste Welt, geprägt von Langeweile. Sie wird definiert von begrenzten Vorstellungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Personen, die wie Balbuena anecken, da sie sich keinen vorgefertigten Mustern fügen wollen und rebellieren, haben hier nichts zu suchen. Vor allem auf früheren Songs wie „Proud“ oder „I laugh when I’m with friends but sad when I’m alone“ werden diese Umstände mittels Spoken Word Charakter umschrieben:

Growin‘ up tryin‘ to figure out who you are / sniffin‘ shit at 14, it becomes a little hard / When you’re livin’ in a scene where the healthy shit is far / But the drugs are no further than your room or your car.

070 Shake

Def Jam

Die andere, durchaus mit der Außenwelt verknüpfte Welt, ist das Innenleben Shakes. Hier finden sich Gefühle, Emotionen; all das was überdauert, was nicht materiell ist. Balbuena ist besessen von der Funktionsweise menschlicher Emotionen, sie möchte, dass Zuhörerinnen bei ihrer Musik etwas fühlen, ihren Geist öffnen, gerettet werden. Diese ehrliche und oft aufschauende Sichtweise folgt meist kurz auf die zuvor beschriebenen Zustandserklärungen ihrer Umwelt und mutet damit schon fast bipolar an, als gäbe es zwei verschiedene Personen, die in ihren Songs miteinander kommunizieren. So geht der oben zitierte Song folgendermaßen weiter:

Don’t be alarmed, it’ll get brighter, it’ll get better / It’s ‚cause we are fighters and tougher than leather / The strong you is inside, but you just haven’t met her / Only we control our storm because we are the weather

Von Drake zu Pink Floyd

Angefangen mit Musik hat 070 Shake, indem sie auf YouTube nach Drake Type Beats gesucht, ihr Notizbuch hervorgekramt und angefangen hat, ihre Gedichte zum Beat aufzunehmen. Ihre ersten Songs waren so noch geprägt von einer Mischung aus melodischen Trap Beats und Emo-Elementen, die auf Soundcloud vor allem durch ihre androgyne, kräftige Stimme Anklang gefunden haben.

Das Modus Vivendi Plattencover

Def Jam

„Modus Vivendi“ hingegen ist soundtechnisch um einiges vielfältiger, es wirkt fast schon transzendental, wie der Soundtrack zu Christopher Nolan’s dystopischen Science-Fiction Film Interstellar. „Modus Vivendi“ steht für eine „erträgliche Übereinkunft“, jeder Song auf der Platte soll co-existieren können – egal, wie verschieden die Sounds sind. Es setzt dort an, wo Shake mit ihrer Glitter EP schon begonnen hat: Mit einer Introspektion über die Vergänglichkeit des Lebens und des konstanten Kampfes gegen die inneren Dämonen, über die vielen Hürden der monogamen Liebe aber auch die Einzigartigkeit sinnlicher Beziehungen.

Wenn der Rolling Stone schreibt, die Platte höre sich an wie eine Emo-Rap Version von Dark Side of the Moon, dann wahrscheinlich, weil Pink Floyd während des Fertigstellung-Prozesses des Albums eine der vielen Inspirationen für Shake war. Auf dem Synthie-lastigen, fast schon kinematisch anmutendem Album, finden sich zahlreiche Einflüsse großer Musiker. Kanye Wests Platten der 10er Jahre, Michael Jackson, Thom Yorke – sie alle haben Shake in ihrem Schaffen inspiriert. Es ist der Beweis dafür, dass sich die junge Künstlerin weder als Individuum noch als Künstlerin in Boxen stecken lässt. Shake ist ein Freigeist und holt sich ihre Inspiration überall dort, wo sie etwas Besonderes entdeckt. Sie selbst empfiehlt das Album in aller Ruhe zu hören, wie sie es auch mit dem Intro Don’t Break The Silence suggeriert.

Es gleicht dabei dem Anfang eines Liebesdramas: Auf „Morrow“, der ersten Single-Auskoppelung des Albums, geht es darum, seine*n Partner*in wertzuschätzen und gegen Tiefpunkte in einer Beziehung anzukämpfen. „The Pines“, eine Weiterverarbeitung des alten Folksongs von Lead Belly, an dem sich auch schon Kurt Cobain versucht hatte, verwandelt die Geschichte in eine twisted love story: Shake fragt sich, wo ihre Geliebte die letzte Nacht verbracht hat. Das Drama wird in Guilty Conscience aufgedeckt, sie erwischt ihre Partnerin, verschweigt aber, dass sie selbst auch betrogen hat und kämpft nun mit dem schlechten Gewissen.

Die zweite Hälfte des Albums handelt von einer Person, die erkannt hat, dass es nicht gesund ist, in einer Beziehung alles zu geben – weil einem dann selbst nichts mehr übrigbleibt: „I don’t wanna be your everything / Cause I don’t wanna leave you with nothing‘. (Microdosing). Eine Abrechnung mit der Liebe ist es aber auf keinen Fall: Schon auf dem nächsten Track, „Nice to Have“, liefert Balbuena auf einem Boom Bap Beat eine Hommage an die Liebe in Zeiten, in denen man angeblich am stärksten ist, wenn man alleine ist. Shake sagte dazu in einem Interview:

„I don’t think people realise the importance of human companionship. When we are with others it reminds us of who we are. We use people as a reflection of ourselves, so it’s always nice to have somebody.”

Das Album endet schließlich, wie es begonnen hat: „Flight 319“ ist ein filmisches Outro. Es beschreibt die Dreifaltigkeit zwischen Geist, Körper und Seele und greift mit seinem Chorus „I’ll never know how long I’ll stay, how far I’ll go“ wieder die Vergänglichkeit des Lebens auf. Thematisch schließen die Synthesizer von Flight 319 an das zweite Intro „Come Around“ an, wodurch aus der Platte ein in sich geschlossener Zyklus wird, der zeitlos ist. Ihrem Wunsch, eine Spur zu hinterlassen und Kunst zu schaffen, die sie selbst überdauert, kommt 070 Shake dabei ein kleines Stückchen näher. Und wer das Album beim ersten Mal nicht versteht, sollte nicht verzagen. 070 Shake tweetete dazu selbst:

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