FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Kinderwagen

dpa/dpaweb/dpa/Kay Nietfeld

Blumenaus 20er-Journal

Ich fahre Kinderwagen. Vom Lächeln und Fügen.

Seit ich als Verkehrsteilnehmer der Letzte in der Hackordnung bin, verstehe ich alle Minderheiten-Proteste besser. Und nein, ich will nicht freundlich lächeln.

Ein Wochenendtext von Martin Blumenau

Zuerst kommen die Autofahrer, dann die öffentlichen Gefährte wie Bus und Bim, dann die Radfahrer, die Scooter, Rollerer und Skater, dann die Fußgänger. So ist die Verkehrs-Hierarchie. Und unter den Fußgängern wäre dann noch eine Gruppe: Da sind die Rollstuhlfahrer*innen und wir, die mit dem Kinderwagen. Wir teilen uns auch noch in zwei Klassen: die Fortgeschrittenen mit den Buggys (und den großen Kids) und die Anfänger mit den Schlachtrössern, den Kleinkind-Beförderungs-Geräten. Wir sind die letzten in dieser Nahrungskette.

Falls jetzt jemand Kinderloser blöd fragt: Ja, man muss rausfahren, auch mit Babys, frische Luft (selbst in der Stadt) und Gerüttel machen guten Schlaf und der ist wichtig fürs Wohlergehen aller.

Sicher ist alles besser als früher. Mein Vater hat mir erzählt, als er mich beim ersten Baby bei Ausfahrten begleitet hat, dass er damals, in meiner Kindheit, den Wagen permanent heben und tragen musste, über Stock, Stein und Stiegen, weil die Stadt so überhaupt nicht auf rollende Kleinstgefährte ausgerichtet war, jede Straßen-Überquerung war eine Qual. Aus dieser stadtplanerischen Hölle hat sich Wien nur langsam herausbewegt, mit Marksteinen wie der Fußgängerzone Kärntner Straße bis hin zur Mariahilfer Straße. Das ist alles viel besser: abgeflachte Gehsteigkanten zeigen fast überall, wie die Stadtplanenden zunehmend mitdenken.

Dass du trotzdem der letzte bist, siehst du, wenn du am Knotenpunkt aussteigst, feststellst, dass der Lift gesperrt ist und dort das Hinweisschild klebt, dass du gefälligst bei einer anderen Station aussteigen sollst. Mehr „Schleich dich!“, mehr „Schmeck’s“ geht gar nicht.

Zu dieser institutionellen Ignoranz (allein die Liste von deppert oder falsch gebauten, zu kleinen Liften im öffentlichen Verkehr ist länger als mein Arm) kommen noch die lieben Mitmenschen. Es gibt viele, die freundlich sind und helfen, und die überschütte ich mit Dank, Freundlichkeit, Lächeln und warmen Worten. Es gibt aber auch jene, die auf (gern falsch verstandene) Bestimmungen hinweisen oder sich über die Behinderung durch mich und mein unbewegliches Gefährt beschweren. Mein Kind, denke ich mir dann, wird dir oder deinem Kind die Pension bezahlen, also halt’ die Fresse. Der solidarische Gedanke, die grundsätzliche Idee, dass Kinder fürs Überleben einer komplex organisierten Zivilisation notwendig sind, beides hat sich nicht so recht durchgesetzt. Kinder haben ebenso wenig eine Lobby wie Jugendliche oder Studierende oder andere, die hastig Hastende aufhalten.

Wegen all dieser Erfahrungen hat sich meine Ausfahrts-Praxis mit dem zweiten Kind deutlich geändert: Ich habe meine Zurückhaltung, mein höfliches Warten, mein Zurückstecken abgelegt. Ich habe mein defensiv-vorsichtiges Fahren in ein offensives graduell rücksichtsloses umgewandelt. Und sobald ich Grant oder Widerstand bemerke, sind auch kleine Rempler mit dem Wagen durchaus Teil der „Nimm mich wahr!“-Strategie.
Wo ich früher höflich gelächelt und gewartet hätte, beanspruche ich jetzt Vorrang oder Territorien.

Seitdem höre ich manchmal von überrumpelten Unachtsamen Sätze wie „Seien sie doch freundlicher“, einer empfahl mir sogar das „Lächeln“ (das er im Fall einer Hilfestellung eh bekommen hätte).

Und es war in diesem Moment, als ich eine bis dorthin nur theoretische Solidarisierung auch praktisch (und emotional) verstanden habe. Nämlich den „Lächle doch, da bist du viel hübscher“-Klassiker, den Frauen so oft hören, wenn sie etwas beanspruchen, was andere nicht so gerne hergeben. Dieses „Lächle doch, sei doch freundlich!“ sagt nämlich nichts anderes als „Füg dich in deine Rolle, mach gute Miene zu unserem bösen Spiel. Camoufliere deine Gefühle und Prinzipien“. Der Weg zu Gilead ist da nicht weit.

Diese von den Untersten in der Hackordnung erwartete Fügung und die Entrüstung darüber, wenn sie nicht passiert, das ist ein zentraler Punkt, und es sollte der Auslöser von Widerständigkeit sein. Wo es darum geht „Nein!“ zu sagen, nicht mit einem Lächeln nachzugeben und schon gar nicht drauf zu vertrauen, das die gutmeinende Mehrheitsgesellschaft respektive Machthaberei einen schon reinholen und gerecht behandeln wird. Kannst du nämlich vergessen, solange du dich fügst und lächelst, wirst du zu nichts kommen. Und im Meta-Diskurs sogar noch verarscht werden, weil du dich nicht auf die Hinterbeine gestellt hast. Deine Fügung wird dir nämlich als Zustimmung zum System ausgelegt, als Zufriedenheit mit den Umständen. Und das ist zynisch, egal ob absichtlich oder nicht.

Letztlich gilt das für alles und alle.
Ich kenne das von den (hierzulande angeblich inexistenten, aber wohl nur schlecht sichtbaren) Klassenschranken. Ich kenne das von Männerbündeleien, die bestimmte Verhalten erwarten und Differenz nicht kapieren. Ich kenn das aber nicht als Dauerzustand, wie es für alle von einer festgelegten Norm Abweichenden gilt. Und ich kenne das vor allem nicht als Frau. Weil aber die Kinderwagen-Schieberei in ersten Linie als Frauen-Job vordefiniert ist, und die Usancen entsprechend sind, hat es mich in diesem Fall quasi miterwischt. Und ich bin dankbar für den Einblick.

Wäre Kinderwagen-Ausfahrt seit jeher eine klassisch männliche Tätigkeit, hätten wir längst eine eigene Spezial-Spur im Verkehrs-System.

Aktuell: