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Guilherme Amado

Domingos Peixoto / Agencia O Globo

„Bolsonaro hat alle Grenzen der Demokratie getestet“

Seit einem Jahr heißt Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Wir haben mit dem brasilianischen Journalisten Guilherme Amado darüber gesprochen, was sich seitdem im Land verändert hat. Für Amado hat Bolsonaro alle Grenzen der Demokratie getestet.

Guilherme Amado ist brasilianischer Kolumnist und Investigativreporter. Er spricht im Interview mit Melissa Erhardt über ein Jahr Bolsonaro: den zunehmenden Hass gegenüber Journalist*innen und Aktivist*innen und die Gefahr, die Bolsonaro für die brasilianische Demokratie darstellt.

Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro nehmen die Attacken gegenüber Journalist*innen zu, vermehrt kommt es auch zu physischen Angriffen. Wie würdest du die Situation beschreiben?

Das große Problem momentan ist die Belästigung und Schikane, die ausgelöst wird durch den Hass, den Bolsonaro verbreitet. Fast täglich attackiert der Präsident Journalist*innen über die sozialen Medien oder persönlich in Interviews. Im Dezember hat er öffentlich die sexuelle Orientierung eines Reporters angesprochen und ihn wegen seiner Homosexualität diffamiert. Im Januar hat er zu einem anderen Reporter gesagt, er solle seinen Mund halten, ein paar Tage später meinte er öffentlich, Journalisten seien Tiere. Durch diese Attacken von Seiten des Staatsoberhauptes werden auch andere Personen dazu veranlasst, zu attackieren, zu belästigen und Hass zu verbreiten. Physisch angegriffen hat Bolsonaro niemanden, was wir allerdings erleben, sind physische Angriffe von der Polizei.

On Air: 1 Jahr Bolsonaro
Welche Konsequenzen haben die Rhetorik und Taten des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro für Menschen, die nicht in sein Konzept der traditionellen christlichen Werte Brasiliens passen? Darüber haben Natalie Brunner und Melissa Erhardt mit Journalist*innen, Aktivist*innen und Kulturschaffenden gesprochen.
Homebase Spezial
Montag, 3. Februar 2020, 21 Uhr.

Warum attackieren Polizist*innen Journalist*innen?

Meistens handelt es sich um Journalist*innen, die über Morde in den Favelas (Anm.: brasilianische Slums) berichten, oder an Demonstrationen teilnehmen. Es gibt Fälle, bei denen Journalist*innen von aggressiven Polizist*innen geschlagen werden, in ländlichen Regionen kommt es aber auch zu Ermordungen von Journalist*innen. Für unabhängige Medien und Reporter*innen, die keine Unterstützung von den großen Medien haben, ist es nicht sicher.

Was können Journalist*innen gegen diese Angriffe tun?

Wenn es online zu Belästigung und Hate-Speech kommt, empfiehlt ABRAJI (die brasilianische Vereinigung für Investigativen Journalismus), nicht mit den Hasspostern zu interagieren. Wenn du das Gefühl hast, die Belästigung schädigt deinen Ruf oder bringt dich in Gefahr, empfehlen wir, zur Polizei zu gehen und die Person anzuzeigen. Das empfehlen wir aber nur, wenn der Aufwand die aufgebrachte Energie, die Zeit und womöglich das Geld wert ist. Wenn es „nur“ noch eine Belästigung von einer Person ist, die niemand kennt und die keine größere Konsequenz nach sich zieht, empfehlen wir, nichts zu tun. Denn: Je mehr man mit Hasspostern interagiert, desto mehr gewinnen diese an Relevanz und erreichen schließlich das, was sie wollen: Dich von deiner Arbeit als Journalist*in fernzuhalten.

Einer der größten Medienkonzernen Brasiliens, Grupo Globo, hat die Ermordung der Menschenrechtlerin und Aktivistin Marielle Franco mit dem Präsidenten in Verbindung gesetzt. Der mutmaßliche Mörder soll wenige Stunden vor der Ermordung Francos zu Bolsonaros Haus gefahren sein, die beiden sollen sich persönlich gekannt haben. Daraufhin hat Bolsonaro damit gedroht, die Sendelizenz für Globo nach 2022 nicht mehr zu genehmigen. Kann er das tun?

Das ist ein Beispiel für den Versuch von Zensur, für einen Präsidenten, der versucht, einzuschüchtern. Er kann eigentlich nicht sagen, dass er die Sendelizenz für Globo nicht verlängern wird, dafür ist unser Kontrollsystem zu stark. Aber gleichzeitig wissen wir nicht, was bis 2022 passiert. Wir wissen nicht, wie stark er sein wird. Man kann das mit Venezuela vergleichen: Hugo Chavez hat RCTV, einen Privatfernsehsender aus Caracas, der eine gegnerische politische Haltung zur Regierung von Chavez eingenommen hat, nicht im ersten Jahr seiner Amtszeit geschlossen. Er hat RCTV nach vier oder fünf Jahren geschlossen. Je länger autoritäre Führer an der Macht sind, desto mehr Macht haben sie. Bei einer Wiederwahl sagt das Volk quasi „Wir sind einverstanden mit dem, was der Präsident macht“ – und der Präsident macht weiter. Das ist nicht nur eine Gefahr für Brasilien, sondern auch für andere Länder mit autoritären Führern, auch in etablierten Demokratien, wie den USA. Wenn Trump wiedergewählt wird, wird er in seiner zweiten Amtszeit mehr Macht haben als in seiner ersten. Dasselbe passiert mit Bolsonaro.

Wie würdest du das erste Jahr unter Bolsonaro beschreiben? Was hat sich geändert, was ist gleichgeblieben?

Bolsonaro hat alle Grenzen der Demokratie getestet. Er hat versucht, Gesetze zu erlassen und Gesetze zu ändern, ohne darauf zu warten, dass diese durch den Kongress bestätigt werden. Er hat die Grenzen der Meinungsfreiheit getestet und sie manchmal überschritten. Er hat wichtige Personen in hohen Machtpositionen ausgewechselt. Er hat die Grenzen der Zivilgesellschaft ausgetestet und überschritten, hat Aktivisten attackiert, unabhängige Organisationen attackiert, Menschenrechtler*innen attackiert. In vielen Fällen hat unser Kontrollsystem, also unser Kongress, die Presse, die Öffentlichkeit etc. funktioniert, in anderen Fällen jedoch nicht. Die nächsten Jahre werden nicht anders ausschauen: Bolsonaro wird so lange testen, bis er bei manchen Dingen Erfolg hat. Die Gefahr ist: Nach vielen Jahren, in denen er viele kleine Dinge verändert hat, werden wir das größere Bild sehen. Wir werden viel verloren haben als Demokratie, sie wird nicht unbeschadet davonkommen.

Eine letzte Frage zur brasilianischen Kulturindustrie. Die Filmfördermittel sind unter Bolsonaro um die Hälfte gekürzt worden, viele Filme laufen in Brasilien nicht an oder werden verboten, wie zuletzt die Jesus Parodie. Ist das Zensur?

Es ist auf jeden Fall Zensur, genauer gesagt wirtschaftliche Zensur. Wenn eine ganze Industrie von öffentlichen Geldern abhängig ist und der Präsident sagt, er sucht aus, welche Filme Gelder bekommen sollen und welche nicht, dann ist das Zensur. Schlimm ist es vor allem, weil nur Filme und Projekte gefördert werden, die der Ideologie des Präsidenten entsprechen, in vielen Fällen nur religiöse Filme. Es werden öffentlich kulturelle Initiativen unterstützt und andere nicht, für die es dann unmöglich ist, Gelder aufzutreiben. Wenn sich das nicht ändert, wird das bleibende Schäden in der brasilianischen Kunst- und Kulturszene hinterlassen.

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