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Frau hört mit Kopfhörern Musik

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Blumenaus 20er-Journal

The Soundtrack of our Lives

Warum das gängige Narrativ, dass uns Musik nur einmal im Leben wirklich berührt und danach unser unverrückbarer Soundtrack bleibt, nur eine bequeme Ausrede ist.

Von Martin Blumenau

Es gibt da dieses David Byrne-Zitat aus dem SZ-Magazin, das ich unlängst in einer Social-Media-timeline gelesen habe: „Es gibt das Alter, in dem wir versuchen uns ein konsistentes Ich aufzubauen. Wir fragen uns, wer bin ich, wie passe ich in diese Gesellschaft - und die Musik, die wir dazu hören, gewissermaßen als Soundtrack, hat natürlich durch diesen Zusammenhang mehr Kraft und mehr Wichtigkeit als jeder Ton, den wir später hören. Sie wird uns ein Leben lang als besonders bedeutend und besonders originär erscheinen. Im weiteren Leben finden die meisten Menschen keine Musik mehr, die da mithalten kann. Logisch.

Das stimmt natürlich; z.B., ganz aktuell: hier.
Und es ist zugleich auch total falsch. Und eigentlich eine allzu billige Ausreden-Folie, die so nicht gelten darf.

Ganz abgesehen davon, dass Musik und musikalische Prägung nicht zu jeder Zeit dieselbe Bedeutung und Intensität hat, und es im Gegensatz zu Byrnes Jugend oder auch zu Byrnes Schaffens-Hochblüte wohl anders war als etwa heute, wo andere Leitmedien andere Identifikations-Räume geschaffen haben und ganz abgesehen davon, dass Musik durch die drastisch geänderte Zugänglichkeit (früher war individuell ausgestaltete analoge Suche nötig; heute besteht umfassende digitale Verfügbarkeit) weitaus distanzierter konsumiert wird, setzt dieser Gedanke eines voraus: dass wir uns im Leben nur ein einziges Mal diese großen Fragen stellen.
Und das ist nicht wahr.

Schließen wir einmal jene aus, die sich nie diese Fragen (wer bin ich? wie passe ich in diese Gesellschaft?) stellen, weil sie von anderen beantwortet und nie in Frage gestellt wurden (kommt in kollektivistischen Gesellschaften gerne vor, nicht nur in Asien, sondern auch in rechtsextremen Enklaven mitten im Österreich oder Deutschland) oder weil sie sich überhaupt nie etwas fragen, sondern das gesamte Leben reaktiv bestreiten. Gibt’s alles. Und womöglich haben auch diese Menschen spezielle Musik - was wiederum die Byrne-These über den Haufen werfen würde, aber das bedürfte einer eigenen Untersuchung.

Für alle anderen, also alle, die sich die „Wer bin ich und wo gehöre ich hin?“-Frage stellen, wäre sie nach der gängigen These nur ein einziges Mal erlaubt; weil es ja nur einmal diese Verknüpfung mit Musik gibt, sich nur einmal dieser Soundtrack unseres Lebens verfestigt.

Das klingt für mich unendlich altmodisch, so nach dem „and they lived happily ever after“-Prinzip der Märchen, wo nach der aufregenden Story dann nichts anderes als ein glückliches (oder eher: ödes) Erwachsenen-Leben kommt. Ich schätze, dass es nicht einmal früher (zu Gebrüder-Grimm-Zeiten) so war. Weil das Leben selber dafür sorgt, dass sich diese zentralen Fragen immer wieder stellen. Nenn es Midlife Crisis oder The Ballad of Lucy Jordan, um dich den Älteren verständlich zu machen. Oder blicke in die verständnislosen Augen jüngerer Menschen, die sich ohnehin andauernd selber neu erfinden. Die Menschen, die sich einmal über sich selber ins Klare gekommen sind und danach unverändert/unveränderbar durchs Leben gehen, kann ich gefühlt an einer Hand abzählen. Alle anderen kommen immer und immer wieder in große und kleine Veränderungen, haben Erkenntnisse oder Erleuchtungen.

Selbst jemand wie ich, der zumindest beruflich eine sehr geradlinige Bahn genommen hat (seit 40 Jahren in den Medien, seit über 35 Jahre zumindest auch beim gleichen Großunternehmen, seit 25 Jahren FM4), hat sich dazwischen zumindest dreimal neu erfunden. Von den diversen, völlig verschiedenen privaten Phasen und divergierenden Ansätzen dort gleich ganz zu schweigen.

Soweit ich weiß, haben sich unsere Körper-Zellen alle sieben Jahre komplett erneuert; letztlich sind wir alle sieben Jahre ein anderer Mensch; einer, der halt dank der Erinnerungsleistungen an früher viele Erfahrungen mitnimmt, Körper-Gedächtnis inklusive.

Die Annahme, dass es nur genau eine Zeit gibt, in der sich alles ändert, und die dazugehörige Annahme, dass man daraus das Recht ableiten darf, die zu diesem Zeitpunkt als leiwand oder wichtig empfundene Musik bis ins Grab hinein als die einzig Wahre vor sich her zu tragen, können also nur als totales Minderheitenprogramm durchgehen. Alle Menschen mit einem halbwegs normalen wechselvollen Leben, bekommen zwei, drei oder noch mehr Male die Möglichkeit die Musik, die sie zu diesen Gelegenheiten begleitet, als den jeweils wichtigsten Soundtrack ihres Lebens abzuspeichern. Und je mehr, desto reichhaltiger. Mich überrieselt der Schauer, wenn ich T.Rex höre ebenso wie bei der Patti Smith Group oder bei Hüsker Dü oder Gang Starr oder dem Song 2 oder dem Vollenden-Lied vom Nino aus Wien. Und das aus jeweils völlig anderen Assoziationen zu jeweils völlig anderen Zuständen zu völlig anderen Zeiten. Und ich wette, dass es den meisten genauso geht.

Wer das erste dargestellte Erlebnis in sein ganz privates Bernstein packt, sich damit zufriedengibt und allem noch folgenden den (selbstverständlich möglichen) emotionalen Zugang verweigert, hat ein, ich möchte fast sagen, ungesundes Verständnis von Verklärung und Nostalgie. Wer sich ernsthaft begnügt, der mdr zu sein, weil er sich nicht und nicht von der DDR lösen kann, darf sich nicht wundern, wenn er eines Tages mit Faschisten in Thüringen aufwacht.

Das mag jetzt allzu dramatisch klingen, weil viele die Stehenbleiberei, was den Musik-Geschmack betrifft, als etwas Cooles oder zumindest „Natürliches“ ausweisen. Und wenn selbst ein schlauer Pop-Denker wie David Byrne einem da die Rutschn legt, ist es umso leichter, in dieses bequeme Narrativ der geistigen wie emotionalen Bewegungslosigkeit zu verfallen. Wenn man noch dazu im Vorübergehen die Erlaubnis bekommen hat, dass man nur ein einziges Mal im Leben drüber bestimmen muss, wer man denn ist und welches Platz man in der Gesellschaft hat, ist das umso gefährlicher. Leistet starrsinnigem Konservativismus und aggressiver Reaktion ebenso Vorschub wie Tümelei in seinen vielen ideologischen Spielarten. Fehlt nur noch der inhaltlich quasi anschließende Trottel-Satz vom idealtypischen Menschen, der im Alter automatisch konservativ sein muss, ebenso wie er in der Jugend automatisch ein Revoluzzer gewesen sein muss. Beides ist kompletter Schwachsinn (hat ja auch jemand Interessensgesteuerter erfunden, beides verführt dazu, Lebensentwürfe als lineare, quasi gottgewollte, vom Menschen nicht mehr beeinflussbare Vorgaben zu betrachten. Und das hat etwas zutiefst Totalitäres.

Es ist also nicht logisch.
Sondern nur im Sinne jener, die uns klein halten wollen und deshalb unsere Kleingeistigkeiten, unsere beengenden Grenzen und kleinkarierten Ansätze zu etwas Lässigem hochjazzen.

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