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„Scham“ erzählt, wie ein Opfer zur Täterin wird

Es gibt Bücher, bei denen es einem beim Lesen kalt den Rücken runterläuft – mehrmals. Der erste Roman der französischen Autorin Inès Bayard ist so ein Buch und nichts für schwache Nerven.

von Alica Ouschan

Trigger-Warnung: Die Geschichte beinhaltet sexuelle Gewalt und Gewaltfantasien, beides beschrieben in expliziter, teils extrem brutaler Sprache.

„Scham“ lässt den Leser*innen keine Sekunde, um in der Handlung anzukommen. Stattdessen wird man sofort ins kalte Wasser geworfen und weiß ab dem ersten Kapitel, dass dieses Buch kein Lesevergnügen im herkömmlichen Sinn bringt. Der Roman beginnt mit einem riesengroßen Spoiler:

„Dem kleinen Thomas war keine Zeit geblieben, das Kompott aufzuessen. Seine Mutter hatte ihm keine Zeit gelassen. Das Gift hatte sich so schnell im Blut ausgebreitet, dass er vor seinem Tod nicht lange leiden musste. Nur Maries Körper war immer noch aufrecht, fest gegen die Stuhllehne gedrückt. Sicher hatte sie darum gekämpft, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Laurent hatte zuerst serviert bekommen. Beim Anblick der drei Leichen hätte sich kaum jemand das herzliche Lachen vorstellen können, das noch Sekunden vor der Tragödie das Zimmer erfüllte.“

Das Buch beginnt mit dem Ende der Geschichte. Doch wie kann es überhaupt erst soweit kommen, dass eine Mutter dazu fähig ist, ihren Sohn, ihren Mann und sich selbst zu vergiften?

Der Anfang vom Ende

Marie ist jung, schön, erfolgreich und glücklich verheiratet. Ihr Mann Laurent und sie wollen ein Kind. Dann wird ihr ganzes Glück mit einem Mal zerstört, als ausgerechnet ihr Chef sich brutal an ihr vergeht.

Marie empfindet so viel Scham, dass sie niemandem erzählt, was passiert ist. Nicht ihrem Mann, ihrer Mutter oder Schwester, nicht einmal der besten Freundin. Marie schweigt aus Angst alles zu verlieren, selbst als sie einige Wochen später feststellt, dass sie schwanger ist. Durch ihre Scham und ihr Schweigen fällt sie in ein tiefes Loch. Ein Gedankenkonstrukt aus Macht, Fragen zu Geschlechterverhältnissen, Selbstbestimmtheit und ihrer eigenen Hilflosigkeit.

„Marie könnte es machen. Sie kämpft mit sich. Ihr fehlt der Mut. Sie hat Angst alles zu zerstören. Ihren Mann, ihre Freunde zu verlieren, dass man sie verurteilt, verdächtigt zu lügen, zu übertreiben. Sie lässt es bleiben. Das Leben geht weiter.“

Je länger Marie schweigt, desto mehr treiben sie ihre Gedanken in den Wahnsinn und ihre Überzeugung, Schweigen sei die richtige Entscheidung, nährt sich daran. Geplagt von Paranoia, Schlaflosigkeit und Depression fängt Marie an, alles zu hassen. Ihren Mann, ihr Kind, ihre Familie und Freunde aber am allermeisten sich selbst.

Überzeugt davon, dass das Kind von ihrem Vergewaltiger sein muss, verfällt Marie immer weiter ihren eigenen Wahnfantasien, die so enden, wie das Buch beginnt.

Buchcover "Scham" von Inès Bayard

Hanser Literaturverlage

„Scham“ von Inès Bayard hat 224 Seiten und ist im Paul Zsolnay Verlag erschienen. Theresa Benkert hat den Roman vom Französischen ins Deutsche übersetzt.

Raus aus der Komfort-Zone

Die Hauptfigur in Inès Bayards Buch ist so nahbar, dass ihr Schmerz beim Lesen spürbar wird. Selbst wenn man Marie anschreien will, sie solle doch bitte den Mund aufmachen und endlich darüber sprechen, was ihr passiert ist, fängt man an, ihre Sicht der Dinge zu verstehen. Schweigen ist leicht, darüber reden ist schwer. Aber reden muss man, wenn man nicht will, dass sich alles anstaut, bis das Fass schließlich überläuft.

In einer Zeit von Victim-Blaming und #metoo spricht Inès Bayard mit ihrem Roman genau das Tabu-Thema an, das einen beim Lesen komplett aus der Komfortzone reißt. Die Brutalität des Schreibstils spiegelt dieselbe Brutalität wieder, mit der Gewaltverbrechen an Frauen verübt werden. In der Beschreibung der Missbrauchsszenen nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund. Die Sprache in „Scham“ ist inspiriert von zwei großen Vorbildern der Autorin: Elfride Jelinek und Ingeborg Bachmann. Auch bei Inès Bayard wird nichts schöngeredet. Keine Klischees sondern nur die grausame, hässliche Wahrheit.

Das Buch behandelt sexuelle Gewaltverbrechen als das was sie sind: Machtdemonstration und patriarchale Auswüchse, die Frauen noch weiter in ebenjene Rollenkonstrukte hineindrängen, die sie davon überzeugen, Schweigen sei die beste Entscheidung. Der unterschwellige Geschlechterdiskurs wird von Kapitel zu Kapitel mehr und mehr spürbar. Denn erst als Marie die endgültige Entscheidung trifft, die ihr Leid für immer beendet, fühlt sie sich zum ersten Mal wirklich frei.

„Scham“ ist alles anderes als leichte Lektüre. Trotzdem erzählt der Roman eine von tausend Versionen derselben Geschichte, die nach wie vor viel zu oft passiert und vor der niemand die Augen verschließen darf.

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