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Grimes Screenshot aus dem Video zu "Delete Forever"

Youtube Screenshot / Grimes

artist of the week

Kunst kommt nicht von künstlich

Atemloser, ätherischer Rave-Pop aus der Zukunft: Grimes ist mit ihrem fünften Album „Miss Anthropocene“, dem ersten als weltbekannter Celebrity, auf der Höhe ihrer Kunst angelangt.

Von Katharina Seidler

Das Anthropozän ist jenes Zeitalter, in dem der Mensch als maßgeblicher Faktor in die Vorgänge und Entwicklungen der Erde eingreift. Der Beginn der Epoche wird gemeinhin an der Industriellen Revolution festgemacht, und seitdem haben die Nutzbarmachung und, in weiterer Folge, Ausbeutung der Ressourcen und die Gewissenlosigkeit im Umgang mit Natur und Atmosphäre Ausmaße angenommen, deren Nachwirkungen noch in hunderttausenden Jahren zu spüren sein werden. Dass Claire Boucher das Anthropozän in den Titel ihres heiß ersehnten, fünften Albums „Miss Anthropocene“ integriert, ist mehr als passend, hat sich das kanadische Gesamtkunstwerk Grimes doch seit jeher nicht nur mit der Rolle des Menschen im Lauf der Welt, sondern auch mit der Bedeutung von Technologie für die Menschheit auseinandergesetzt. Für ihr neues Album hat sie in einem frühen Instagram-Posting angekündigt, es werde eine „Dämonenlehre des menschlichen Aussterbens“ werden. Im Titel steckt auch der Begriff „misanthrop“.

Die Zukunft ist für Grimes immer nur einen Wimpernschlag entfernt, am besten holt man sie noch heute ein. Man begegnet ihren Errungenschaften mit offenen Armen. Ob sie ihren Namen, wie sie behauptet, offiziell in c, das Formelzeichen für Lichtgeschwindigkeit, ändern hat lassen oder sich durch eine biometrische Augen-OP die Farbe Blau aus der Netzhaut filtern ließ, sei dahingestellt. Die Begeisterung für zukunftsweisende Technologien und Griffe nach den Sternen und Planeten teilt sie jedenfalls mit ihrem Partner Elon Musk, der etwa mit seinem Unternehmen SpaceX an der Kolonialisierung des Mars arbeitet und via Tesla reichen Menschen ein gutes Gewissen für Strom-aus-fossiler-Energie-fressende Autos verkauft.

Grimes schwanger mit orangen Zöpfen

Eli Russell Linnetz

Grimes und Elon Musk erwarten derzeit ihr erstes gemeinsames Kind.

In einem vielbeachteten Podcast-Interview im letzten Herbst philosophierte Grimes überschwänglich über die immense Bedeutung, die Künstliche Intelligenzen in greifbar naher Zukunft für die Kunst haben werden. Warum sie selbst allerdings bis heute gänzlich ohne KIs an ihren futuristischen Popmusikentwürfen schraubt, bleibt rätselhaft. „Das Tolle ist ja, dass wir vielleicht die letzten menschlichen Künstler überhaupt sind,“ meint die aus dem DIY kommende Grimes, „bevor KIs besser schreiben, malen, Musikmachen und neue Kunstformen erschaffen werden als wir“.

Ihr neues Werk ist also, trotz all der digitalen Zaubertricks, die ihm Grimes als scheinbar nie versiegendes Füllhorn an Neugierde und Ideen eingebaut hat, ein organisches, menschgemachtes Album, und auch trotz all der mitunter sogar ärgerlichen Widersprüche im Zugang und des sperrigen und leicht erratischen Konzepts kann man kurz und deutlich sagen: „Miss Anthropocene“ ist fantastisch, in allen möglichen Auslegungen dieses Wortes.

Berührungsängste zwischen den Genres kannte Grimes, die sich für Nine Inch Nails gleichermaßen begeistert wie für Enya, K-Pop, Joy Division, Mariah Carey, Aphex Twin oder The Smiths, seit jeher nicht. Während ihr in alle Richtungen, Stile und Farben überlaufendes, maximalistisches letztes Werk „Art Angels“ aus dem Herbst 2015 noch einige Gemüter spaltete, laufen nun auch die letzten Fäden, die damals lose in der Luft baumelten, zusammen. Dass eine Platte, die so Vieles in sich vereint, so sehr aus einem Guss klingen kann, ist dann beinahe schon wieder ein übermenschliches Kunststück… Aber lassen wir das.

Grimes Cover "Miss Anthropocene"

Grimes / 4AD

„Miss Anthropocene“ von Grimes erscheint am 21.2.2020 via 4AD

So enthält „Miss Anthropocene“ halsbrecherische Drum’n’Bass-Rave-Hymnen wie „4 AEM“, perfekte, dramatische Popsongs wie „New Gods“ und mit „IDORU“ ein über siebenminütiges, herzzerreißendes, digitales Liebeslied als Albumabschluss. In „My name is dark“, einer der Vorab-Singles, nimmt Grimes’ lyrisches Ich eine dunkle und hoffnungslose Perspektive ein. Das Konzept, einen Moment lang das eigene, schlimmstmögliche Selbst zu verkörpern, hat die Künstlerin bei ihrem großen Helden Trent Reznor und dessen Durchbruchs-Konzept-Album „The Downward Spiral“ aus 1994 ausgeborgt. In bester Nine Inch Nails-Manier stemmen sich Grimes’ süße Vocals über Drogen, Insomnia und Nihilismus darin gegen kreischende Gitarren, brutale Industrial-Beats und ihre eigenen Schreie. „Ethereal metal,“ sagt Claire Boucher selbst in einem sehr detaillierten Video-Interview zu diesem Song im Speziellen, und trifft es damit ziemlich genau.

„Darkseid“ mit den Lyrics im atemlosen Mandarin der Taiwanesischen Rapperin Aristophanes schleppt sich als dystopischer Bass-Music-Stomper in den hintersten Höllenschlund und wird umgehend von der Indie-Akustik-Gitarre in „Delete Forever“ konterkariert. Der sorglose Eindruck täuscht - „Delete Forever“ ist ein Song über die Opioidkrise in den USA, der zuletzt etwa Grimes’ guter Bekannter Lil Peeps zum Opfer fiel.

I see everything, I see everything
Don’t you tell me now that I don’t want it
But I did everything, I did everything
White lines on a mirror, then a song
(„Delete Forever“)

Als überweltliche Göttin des Klimawandels „Miss Anthropocene“ streift Grimes also durch die unendlichen Weiten ihres fünften Albums. Sie erkundet dabei die verschiedensten Gemütszustände und Einstellungen zum nahenden Ende - der Kunst? Der Menschheit? - von Verzweiflung bis Trotz, Kampfgeist bis Bedauern, und sie sucht unermüdlich nach neuen Idealen und Gottheiten als Leitfiguren in den neuen Zeiten. Was sie auf jeden Fall findet, ist nichts weniger als eine neue Popmusik, barock überladen bis in den letzten Soundschnipsel und doch nie ausformuliert. Die Leerstellen zwischen den Klangspuren, kleine Krater und schwarze Löcher, kann der oder die* Hörende selbst mit Emotion füllen: Vielleicht ist es ja wirklich höchste Zeit, dass das Anthropozän zu Ende geht.

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