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Andrew Weatherall 2009

Spencer Hickman

Der Rave’n’Roller: Andrew Weatherall ist tot

Der Produzent, DJ und Musiker ist mit 56 Jahren gestorben. Weatherall hat nicht nur die elektronische Musik vorwärtsgetrieben. Er wurde auch zur Leitfigur für eine Generation, die sich zwischen Techno und Rockabilly nie entscheiden wollte.

Von Christian Fuchs

Aus tragischem Anlass eine Rückblende ins Jahr 2005. Damals treffe ich Andrew Weatherall in einem Wiener Hotel zum Interview. Eigentlich, denke ich mir, müsste mir eine menschliche Ruine gegenübersitzen. Schließlich war dieser Mann in den Achtzigern und vor allem Anfang der ravenden Neunziger mitten drin im Party-Inferno. Gar nicht zu reden von der folgenden techno decade of non-stop thrills and pills. So etwas muss doch Spuren hinterlassen.

Bildquelle, CC BY 2.0, Ausschnitt

Zumindest Müdigkeit muss dieser Typ doch ausstrahlen, nach endlosen Abenteuern im Nachtleben. Und gleichzeitig erwarte ich eine Riesenportion Abgeklärtheit, nach seinen Erfahrungen mit dem Musikbusiness. Aber Weatherall erfüllt keines dieser Klischees. Die Antworten sprudeln nur so raus aus dem quicklebendigen Producer und DJ, der mit seinem Rockabilly-angehauchtem Look in der Designerbar des Hotels deplatziert wirkt. Den Enthusiasmus hat der Brite auf seinem langen Weg nie verloren, ebensowenig seine Integrität. „It’s hard“, grinst er schelmisch, wie so oft in dem Gespräch, „but as I got older, I learned to resist the temptations“.

Vom Postpunk zur Rave-O-lution und retour

Plattencover: Sonne mit zwei großen Augen

Primal Scream

Zum Nachhören: Daniel Haaksmans Sonic Essay, eine Mischform aus Mixtape und Radiodoku, über das legendäre Album „Screamadelica“ von Primal Scream, unter maßgeblicher beteiligung von Andrew Weatherall

Der 1963 im britischen Windsor geborene Andrew Weatherall hatte eine ganz spezielle Geschichte. Von abgefuckten Punkclubs und düsteren New-Wave-Schuppen führte ihn seine journey into sound einst nach Ibiza, wo eine Handvoll zugedröhnter britischer DJs eine Rave-O-lution startete, die die Welt veränderte. Und von dort ging es auf riesige Rockbühnen, gemeinsam mit den von ihm produzierten Zöglingen Primal Scream. Ihr 1991er-Album „Screamadelica“ dekonstruiert er im Studio so radikal, dass nur ein paar Gesangsspuren und vereinzelte Instrumente übrigbleiben, die er durch Hallgeräte schickt. Das dubbige und tanzbare Endergebnis begeistert nicht nur die Band selbst. „Screamadelica“ wird zum Schlüsselwerk für Legionen pillenschluckender Prä-Rave-Kids.

Weatherall bleibt Primal Scream als Freund verbunden, taucht aber selber ins dämmrige Studio seines Projekts Sabres of Paradise ab, stürzt sich in Remix-Aktivitäten für etwa New Order oder die Chemical Brothers. Das Multitalent Andrew Weatherall entwirft aber als Grafikdesigner auch etliche Albumhüllen.

Leitfigur für obsessive Popnerds

Ende der 90er beginnt ihn die kommerzialisierte Dance-Szene zu langweilen und er bastelt mit seinem musikalischen Partner Keith Tenniswood gemeinsam an dunklen Tracks. Two Lone Swordsmen nennen die beiden Freunde ihr Duo und später führt ihn dieses Electro-Projekt wieder an den Anfang seiner Reise zurück. Auf die Bühne, wo live gespielter Postpunk und Düsterfunk die experimentellen Synthsounds ablösen. „When I get up in the morning, I have to take a decision what shall I do today“, sagt er dazu im FM4 Interview seinerzeit, „shall I practice DJing and listen to house and techno records, shall I go in the studio with the band, shall I just sit with the drum machine?“

Nach Solowerken auf seinem eigenen Label Rotters Golf Club ist es zuletzt um Andrew Weatherall etwas ruhiger geworden. In einer postmodernen Gegenwart, in der die einstigen Grabenkämpfe zwischen Ravern und Rockern kein junger Musikfan mehr nachvollziehen kann, hat er sich etwas aus dem Rampenlicht zurückgezogen.

Fakt ist: Genau diese Musikwelt, in der Grenzen kaum mehr eine Rolle spielen, wäre ohne Pioniere wie Weatherall nicht denkbar. Von LCD Soundsystem bis zur Electroclash-Welle der Nullerjahre verdanken dem Briten diverse Bands und Communities unglaublich viel. Er wurde zur Leitfigur für eine Generation obsessiver Popnerds, die sich zwischen Techno und Rockabilly bewusst nie entscheiden wollten.

Heute ist Andrew Weatherall mit nur 56 Jahren in einem Londoner Spital an einer Lungenembolie verstorben. Gäbe es einen Himmel, er würde wohl dort jetzt zwischen Soul-Musikern, Country-Gespenstern und dem Geist von Elvis hin- und herflanieren.

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