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Daves Mic Drop bei den Brits

Robert Rotifer

Robert Rotifer

Danke Dave, und jetzt?

Dienstag Abend bei den BRITS bezeichnet der Rapper Dave den Premierminister als echten Rassisten. Und tags darauf verkündete die Innenministerin drakonische neue Einwanderungsgesetze. Überraschendes Resultat: Ich fühl mich zuhause.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Forgive me, forgive me, dass ich nicht vorm Fernsehen gesessen bin vorgestern Nacht, um mir die anglozentrische Shitshow namens Brit Awards anzusehen. Ich hatte nicht einmal mitgekriegt, dass sie stattfinden. Obwohl das auch nicht ganz wahr sein kann, denn aus dem Augen- und Ohrenwinkel hatte mich doch die Kunde der Kontroverse erreicht, dass mit Ausnahme der „Female“-Kategorien diesmal grundsätzlich Males nominiert waren. Wenngleich immerhin mehr dunkelhäutige Males als durchschnittlich (Dave, Stormzy, Kiwanuka...), aber zwei Arten von Diversität zugleich hätten die Jury wahrscheinlich schon schwindlig gemacht. Davon abgesehen, sind’s auch nur die Brits, heutzutage kann man seine begrenzte Empörungsenergie hier in einiges Wichtigeres investieren.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Das wirklich Interessante an solchen Ereignissen sind ja immer nur die Momente, wo Hofnarrentum in echte Überschreitung des Erlaubten überschwappt, und das ist heuer dem Gewinner des besten Albums – Dave für „Psychodrama“ - besonders eindrucksvoll gelungen (Wie ich also erst im Nachhinein erfuhr, daher die Verspätung der Berichterstattung, ihr haltet das aus).

Daves Mic Drop bei den Brits

Robert Rotifer

Am Ende seiner sowieso schon aufwühlenden Anklage gegen Kolonialismus und Alltagsrassismus namens „Black“ sprang er nämlich von seiner Seite des von einem Bildschirm bedeckelten, digitalen Doppel-Ender-Klaviers auf und rappte einen mit der Regie sichtlich nicht abgesprochenen, anlassbezogenen Zusatzvers direkt in die Kamera:

„It is racist no matter whether or not it feels racist
The truth is our prime minister is a real racist“

(Eindeutig hörbares Atemanhalten des Publikums)

„They say you should be grateful we’re the least racist
I say the least racist is still racist
And if somebody hasn’t already said it
Equality’s a right it doesn’t deserve credit“

Daves Mic Drop bei den Brits

Robert Rotifer

Zur Untermauerung streute Dave noch Referenzen auf die Berichterstattung über Meghan Markle, sowie die Instrumentalisierung der Morde an Saskia Jones und Jack Merritt ein (mir fehlt der Platz, bitte hier nachlesen), und schloss schließlich mit:

„We want rehabilitation
Now that would be amazing
Our Grenfell victims still need accomodation
And we still need support for the Windrush generation
Reparations for the time our people spent on plantations
I’m done“

Daves Mic Drop bei den Brits

Robert Rotifer

Ich dachte mir schon, ich sei ein sentimentaler alter Depp, als mir gestern beim verspäteten Catch-Up-Konsum der Übertragung Tränen der Rührung in die Augen schossen.

Aber dann kam mir die Hardcore-Innenministerin Priti Patel zuhilfe. Sie bezeichnete nämlich Daves Angriff auf Johnson als „kompletter Unsinn“, gefolgt von dem wunderschönen Satz: „Künstler und Entertainer sagen alle möglichen Sachen.“

Daves Mic Drop bei den Brits

Robert Rotifer

Das war so wunderbar unfreiwillig selbstironisch, denn Patel selbst hatte am diesem Morgen alle möglichen Sachen gesagt. Da stellte sie nämlich das kommende neue britische Einwanderungsrecht vor, welches von allen Neunankömmlingen ein von einem britischen „Sponsor“ beglaubigtes Job-Angebot mit Mindesteinkommen von £25.600 Pfund und berufliche Qualifikationen verlangt (Kranken- und Altenpfleger*innen „dürfen“ auch nur £20.480 verdienen, ausnahmsweise, was sie sicher freut).

Zum Freelancen oder Musizieren mit Kellnerjob nach London kommen wird demnach ab nächstem Jahr nicht mehr gehen, und nein, euer Korrespondent hier hätte einst in den Neunzigern nach diesen Regeln nie und nimmer hierher ziehen können. Er hätte wohl auch nicht wollen.

Genauso wie vermutlich all die anderen naiven Seelen zwischen Notting Hill, Camden, Shoreditch und Greenwich, die seither dank Recht auf Einwanderung den Menschen-Aussauge-Apparat London mit ihren selbstausbeuterischen Energien bereichert haben. Sie werden halt anderswo ihrem Schaffensgeist nachgehen.

Nachdem aber auch sämtliche Obstzüchter*innen, die Gastronomie- und die Alten- und Krankenpflegeorganisationen ob diesen Nachrichten verzweifelt auf dem Stand hüpften, ließ Patel wissen, es gäbe „acht Millionen ökonomisch inaktive“ Brit*innen zwischen 16 und 64, die diese Jobs anstelle minderqualifizierter Einwander*innen erledigen könnten.

Nicht bedenkend, dass zu diesen acht Millionen auch chronisch Kranke, Studierende, unbezahlte Pfleger*innen und Pensionist*innen zählen.

Die sollen ab 2021 also alle besser kellnerieren und Obst pflücken gehen.

Kompletter Unsinn natürlich, die Einwanderung wird dringend benötigt, um für die britischen Probleme mangelnder Ausbildung und einer überalterten Bevölkerung zu kompensieren, aber Politiker*innen sagen eben alle möglichen Sachen.

Und während Großbritannien sich selbst ärmer macht, um die fremdenfeindlichen Instinkte des Wahlvolks zu befriedigen, war dies doch sicher nicht der konkrete Anlass für die Wut des Dave, die ihn zu obigem Bonus-Vers inspirierte.

Dafür gab es in letzter Zeit noch genügend andere Quellen, etwa die durch nichts anderes als institutionellen Rassismus erklärbare Deportierung von 17 Straffälligen, die ihre Zeit im britischen Gefängnis bereits abgesessen hatten, nach Jamaika (darauf bezog sich wohl die Zeile „We want rehabilitation“ – wie in seinem Album thematisiert, sitzt Daves eigener Bruder wegen Mordes im Gefängnis).

Oder die Rekrutierung eines (mittlerweile freiwillig gegangenen) rassistischen Regierungsberaters namens Andrew Sabisky, der so - wie unter Neo-Faschistoiden jetzt im Trend - Eugenik für eine gute Idee und Menschen dünklerer Hautfarbe für weniger intelligent hält.

Konkret darauf angesprochen, ob Boris Johnson die publizierten Meinungen dieses Herrn teile, hatte sein Pressesprecher nur gemeint: „Die Ansichten des Premierministers sind wohl dokumentiert.“

Das sind sie in der Tat.

Wer zum Beispiel hier klickt, wird reichlich Evidenz finden, um Daves Befund zuzustimmen.

„Aber geh bitte, was ändert da ein Rap?“, hör ich da schon den Chor selbstzufriedener Fatalist*innen in altbekannten Melodien singen.

Natürlich nichts, aber das ist auch nicht der Punkt. Wie Robert Wyatt einmal richtig bemerkte: Man beurteilt ein Liebeslied schließlich auch nicht danach, ob die Partnerwerbung des/der Sänger*in erfolgreich war.
Wieso sollte es bei Protestsongs anders sein?
Sie sind bestenfalls dazu da, ein gemeinschaftliches Gefühl von Zorn, Trauer oder Kraft zu vermitteln.
Auch nicht schlecht.

Und was gestern Abend bei den Brits passierte, erinnerte diesen alten weißen Mann vom Gefühl ganz deutlich an die Achtzigerjahre, als alle Musiker*innen, die es wert waren, gehört zu werden, sich unter einem kämpferischen Anti-Thatcher-Konsens zu vereinen schienen.

Das verlieh der britischen Popkultur eine unwiderstehliche politische Schärfe, die auch jetzt wieder spürbar ist.

Im übrigen bin ich bei Tyler the Creator, der seine Dankesrede für das beste internationale Album des Jahres mit einer Widmung an „jemand, der mir sehr am Herzen liegt“ beendete, „Jemand, der bewirkte, dass ich vor fünf Jahren nicht in dieses Land kommen konnte. Ich weiß, dass sie jetzt zuhause sitzt und angepisst ist. Danke an Theresa May.“

Tatsächlich hatte May Tyler 2015 als Innenministerin unter Gebrauch von Anti-Terror-Gesetzen die Einreise nach Großbritannien verweigert, und damit promotion-mäßig sehr viel für seine Karriere hier getan.
Und natürlich auch für ihre eigene.

Denn seien wir hier nicht naiv, im Nützen „schlechter“ Publicity sind Popstars und Politiker*innen gleich gewandt, auch wenn sich ihre sonstigen Fähigkeiten eklatant unterscheiden. Wo Boris Johnson zum Beispiel stammelt und stottert, reimt Dave aus dem Kopf so flüssig wie die Themse, die South London von Westminster trennt. Vermutlich ein Zeichen angeboren höherer Intelligenz, nicht wahr, Mr Sabisky?

PS: Über die kommende Visumspflicht für europäische Musiker*innen in Großbritannien (nein, wirklich!) kommt hier demnächst auch was.

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