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Cover Joy Division Unknown Pleasures

Factory Records

Blumenaus 20er-Journal

Ungeahntes Vergnügen: Vom Unterschied zwischen Fasten und Hungern

Wieso Joy Division, vor allem aber ihr „Unknown Pleasures“-Design immer noch als höchst lebendige Untote durchs Pop-Universum geistern.

Von Martin Blumenau

Es gibt eine Faustregel im Pop-Journalismus: Wenn du einmal bei Uncut oder Mojo angelangt bist, kannst du dir den Sarg bestellen. Dann bist du nämlich mausetot - musikmäßig gesehen; gefangen in einer Zombie-Welt wiederkehrender Klassiker ohne jede Anbindung an die Musik des Hier und Jetzt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zur Unterstützung dieses Kults der Untoten seit einiger Zeit das Vinyl-Magazin Mint.

Ich meide dieses Trio aus reinem Überlebenswillen und mache nur für meine Forschungs-Objekte Ausnahmen (klingt wie eine Ausrede, ist eh auch eine): Dylan (wegen dem Buch), Neil Young (wegen dem Film, in dem ich drin bin) und „Joy Division“.

Die kurzlebige Postpunk-Band aus Manchester, aus der nach dem Suizid von Sänger Ian Curtis „New Order“ hervorgingen, ist nämlich neben Dylan der einzige Act, von dem ich jemals Bootlegs gesammelt habe. Muss ich jetzt für die Jüngeren erklären: Bootlegs nannte man in der Prä-Youtube-allesimmerverfügbar-Ära in/auf Tonträger gequetschte illegale Aufnahmen von Live-Shows oder Studio-Sessions. Sowas wurde in Hinterzimmern oder unter der Budel des Stamm-Plattenshops gehandelt. Von Joy Division gab es zweieinhalb Alben und eine Handvoll Singles, also weitaus zu wenig, um das enorme posthume Interesse zu befrieden.

Nun ist das aktuelle Mint-Magazin mit einem Cover zu JDs erstem Album „Unknown Pleasures“ erschienen. Und ich gebe zu: trotz Zombie-Gefahr gekauft und gleich reingelesen.
Ohne schlechtes Gewissen, auch weil Band und Album immer noch popkulturell relevant sind: Auf JD oder New Order bezieht sich ein ganzer Haufen an aktuellen Acts ganz explizit, und auf jedem Konzert ever ist zumindest ein (junger) Typ (und es sind nie Frauen, weshalb auch nicht gegendert werden muss), der ein T-Shirt mit dem legendären Cover mit den Pulsar-Radiowellen drauf anhat. Das Motiv steckt in der kollektiven ikonischen Pop-Bildsprache fest wie ein Warhol und ist nicht wegzukriegen. Und dann war da noch dieser junge japanische Tourist, den ich kürzlich in einer U-Bahn-Station anlabern musste, weil er mit einem (unfassbar schicken) Plastik-Mantel mit dem Cover-Motiv unterwegs war. Ich wüsste nicht, mit welchem anderen Pop-Cover das noch denkbar/möglich wäre. Ich habe nicht wirklich viel von ihm erfahren, keine Sprach-Ebene, bei der Erwähnung von Joy Division hat er immerhin erfreut Jaja genickt.

Das Mint-Heft ist gnadenlos voll mit Detail-Infos zum 1979 erschienenen, ersten Album. Ich erfahre alles über die Technik von Aufnahme und Artwork, alles über die Produktionsweise von Designer Peter Saville und Produzent Martin Hannett, alles über die Entstehung des einzelnen Songs, alles über alle jemals erschienenen Pressungen des Albums und noch einiges mehr.
Und das macht mich wirklich unrund.
Weil ich das nicht will.

Das Faszinosum von Musik (und letztlich jedem Kunstwerk) besteht ja nicht darin, dass es einem die Kunstvermittlerin (oder das Spezial-Medium deiner Wahl oder dein privater Experte) haarklein erklärt und dir quasi vorgibt, bei welchem Sound du jetzt erregt erschaudern musst und bei welcher Songzeile du wegen ihrer tragischen Authentizität betroffen sein solltest; es liegt an deinem persönlichen, individuellen Zugang, deinem Blickwinkel, deiner Entdeckung - sofern es über ein reines kollektives Rausch-Erlebnis hinausgeht und sich tiefer in dir eingraben möchte.

Die überbordende Information, der Wust an Details würden mir, wenn ich die Musik heute neu hören würde, den Blick auf das Wesentliche verstellen, die rohe Energie des Klangs und die unerbittliche Erzählung einer menschlichen Endzeit-Story ständig relativieren.

Ich war, als Joy Division sich den Weg auch in die österreichische Post-Punk-Welt bahnten, schon ein in Untergrund-Medien di­let­tie­rendes Studentlein mit selbst erarbeitetem Zugang in die neue, weitgehend unerforschte Musikwelt, wusste, wo es England-Import von Tonträgern und Medien gab, kannte zwei, drei Auskenner mit Kontakten und kam so an Informationen, die weit über den Durchschnitt hinausgingen. Und dennoch wusste ich vergleichsweise nichts. Ich hab die Geschichte schon einmal anlässlich der FM4 Filmpremiere zu „Control“, dem Ian-Curtis-Biopic von 2007 erzählt: Es gab in Österreich genau einen Menschen, der JD jemals live gesehen hatte, einer von der Neustädter Düsterband „Dämmerattacke“. Wenn er damals ein Szene-Lokal betrat, ging ein Raunen durch die Menge. Weil dieser Typ mehr „wusste“ und kannte als wir alle anderen zusammen, er war unser aller Youtube. Und das war selbst in der analogen Informations-Dürftigkeit des prädigitalen Zeitalters, als Untergrund-Kulturen nur sehr private Verbreitung fanden, sehr speziell.

Auf dieser speziellen und fast schon hochamtlichen Behandlung (schließlich war da noch der in den Lyrics nachzuvollziehende Selbstmord, Rilke lässt grüßen) liegt und lag das Mysterium von Joy Division, die Tiefe von „Unknown Pleasures“, in das man springen musste, wie vom 100-Meter-Turm, wenn man etwas wissen/erfahren wollte.

Andere (Mainstream-)Musik dieser Zeit war bereits übererforscht und -interpretiert, klar, aber mittlerweile gilt das eben auch für die kleinsten Winkel und Ecken. Heute hätte eine Band wie Joy Division keine Chance auf durch fehlende Faktenlage und entsprechende Interpretations-Wucht verursachte mystische Verklärung, sie wären von den diversen forensischen Pop-Labors und detektivischen Annäherungen entzaubert, ehe sie den ersten Verstärker auf Verzerrung gedreht hätten.

Wenn sich heute Pop-Geschichtenerzähler mit Biografien umhüllen, die sie nicht alltäglich machen sollen, dann klappt das nur, weil wir dazu unser Einverständnis gegeben haben und auf allzu viel Informations-Zufuhr verzichtet haben. Mit der damaligen Notsituation sich wirklich alles selber zusammenreimen zu müssen, hat das aber nix mehr zu tun. Das ist so wie Fasten mit Hungern zu vergleichen.

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