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Szenenbild "The Assistant"

Forensic Films

Mittendrin in der Berlinale 2020

Beschlagworten könnte man die beiden bisherigen filmischen Superstars der Berlinale mit #metoo und abortion drama. Gerecht würde man „Never Rarely Sometimes Always“ und „The Assistant“ damit aber nicht werden.

Von Pia Reiser

Halte ich mich daran, was in meinen Feeds wiederholt in Sachen Berlinale angespült wurde, dann ist seit der Eröffnung am 20.02. folgendes passiert: Johnny Depp war da, Lars Eidinger hat bei der Pressekonferenz zu „Persischstunden“ geweint und Maryam Zarree hat versucht, den Gang über den roten Teppich in eine eine Solidaritätsgeste mit den Opfern von Hanau zu verwandeln. Highlights der Analyse der oberflächlicheren Natur: Willem Dafoe hat den besten Schnurrbart und Simon Baker kann besser Tücher um den Hals arrangieren als Darren Aronofsky.

Ein filmischer Liebling hatte sich - bis dann vielleicht Christian Petzolds „Undine“ Weltpremiere feierte - nicht wirklich herauskristallisiert. Als ich gestern in Berlin ankomme, schlüpfe ich noch schnell in die Pressekonferenz zur Dokuserie „Hillary“. Hillary Clinton ist gerade dabei, die Frage nach ihrer Einschätzung des Harvey Weinstein Films zu geben - und aufzuzählen, was noch dringend anzupacken sei. In Clintons Aufzählung folgt noch vor der Absetzung von Donald Trump das große amerikanische Sorgenkind: Health Care.

Die Mängel im amerikanischen Gesundheitssystem setzen im Grunde die Erzählung in einem Film in Gang, der jetzt - nach einer filmtechnisch enthusiasmusarmen Berlinale - für Begeisterung sorgt: In „Never Rarely Sometimes Always“ wird die 17-jährige Autumn ungeplant schwanger und macht sich mit ihrer Cousine von Pennsylvania auf nach New York, um die Schwangerschaft abzubrechen.

Szenenbild "Never rarely sometimes always"

Focus Features

Erste Drehbuchentwürfe gab es schon vor Jahren, so Hittman, doch mit Obama als Präsident gab es wenig Interesse an dem Stoff, man fühlte sich „in a state of progress“. Mit Trump und zahlreichen 2019 durchgeführten abortion bans in mehreren US-Staaten bekommt Hittmans Film noch mehr Dringlichkeit, noch mehr Reibungsfläche mit der echten Welt.

Hittman ist mit „Never Rarely Sometimes Always“ ein One-of-a-kind-Film gelungen und das längst nicht nur, weil das Thema Schwangerschaftsabbruch in Filmen nicht nur nicht thematisiert, sondern üblicherweise nicht einmal angesprochen wird. („I’m calling for a hasty abortion“, sagt Ellen Page in „Juno“, in „Knocked Up“ wird schon nur mehr angedeutet. Und so bleibt im US-Kino eigentlich nur mehr „Dirty Dancing“ übrig).

Weniger an „Dirty Dancing“ sondern mehr an „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ hat Hittman beim Prozess des Drehbuchschreibens gedacht, genauer gesagt an die Dinge, die Hittman an Mungius Film über einen illegalen Schwangerschaftsabbruch in Rumänien unter Ceaucescu stören: “I think it’s a film that is masterfully executed, and yet it left me wanting so much more from the female character who was actually pregnant. I felt that her representation was somewhat misogynistic, because she’s depicted as being really naive and careless. I didn’t find it empathetic toward her, I wanted to make a film about two women in a similar predicament that was really empathetic to both of their journeys”, so Hittman hier. Sie erweist sich auf jeden Fall mit ihrem dritten Film erneut als großartige Erforscherin und Erzählerin der (Gefühls)welten junger Menschen.

Ebenfalls um eine junge Frau dreht sich der fantastische Film „The Assistant“, der rein aufmerksamkeitstechnisch keine besseren Berlinale-Tage hätte erwischen können. Einen Tag, nachdem Harvey Weinstein wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung schuldig gesprochen worden ist, läuft Kitty Greens Auseinandersetzung mit #metoo zum dritten Mal vor (fast) ausverkauftem Hause auf der Berlinale. Mit dem Hashtag, den man so schnell parat hat, wenn man über den Film spricht, wird man ihm allerdings gar nicht gerecht. Kitty Green geht es nicht nur um die Thematisierung der sexuellen Übergriffe, sie durchleuchtet auch eine(Arbeits)welt, der man getrost das Wort toxisch attestieren kann. Dass die junge Frau hier in einer Filmproduktionsfirma abreitet, ist im Grunde nebensächlich, das hier könnte auch eine Versicherung, eine Redaktion, eine Kanzlei sein. Jane, die eines Tages selbst Filme produzieren will, ist momentan hier mehr Sekretärin und Verwalterin des Alltags. Essen bestellen, Skripten kopieren, Memos verteilen, die potenzsteigernden Injektionen für den Boss entgegennehmen und in seinen Schreibtisch einräumen. Das Sofa im Büro ihres Chefs reinigen. Ohrringe, die sie am Boden dort findet, einsammeln.

Einen ganzen Tag verbringen wir mit Jane und im Laufe dieses Tages trifft Jane die Erkenntnis - oder zumindest kann sie nicht mehr länger drüber hinwegsehen - was hier vor sich geht. Als ihr Chef sich mit einer ganz jungen Frau in einem Hotel trifft, geht Jane ins Personalbüro und schildert die Lage. Und stößt auf Unverständnis und den Vorwurf der Eifersucht. Matthew Macfadyen - der in „Succession“ so großartig den skrupellos-schmierigen Tom Wambsgans spielt - gibt den Personalchef, der Jane rät, wenn sie es in dem Job zu was bringen will, ihre Vorwürfe lieber für sich zu behalten. Sie habe nichts zu befürchten, sagt er ihr zum Abschied, you’re not his type.

Szenenbild "The Assistant"

Forensic Films

Der Chef, der an Harvey Weinstein angelehnt ist, bleibt im Film unsichtbar. Man hört ihn manchmal aus seinem Büro rausbrüllen - oder aus dem Telefonhörer brüllen. Es geht hier aber nicht um Weinstein, sondern um eine Bullykultur, die Frauen klein hält, diskriminiert. Und wie alle mitspielen und dieses System am Laufen halten. Seine Wucht zieht „The Assistant“ aus seiner nüchternen Inszenierung. Hier gibt’s keine Sensationslust, keinen Voyeurismus, keine Analyse eines Traumes, sondern einen detaillierten, klaren Blick auf eine vergiftete Umgangs- und Arbeitskultur. „The Assistant“ sehe ich im Kino International in der Karl-Marx-Allee und vielleicht sollte man alle, die der Meinung sind, mit Spitzenbeamer und teurer Soundanlage kann man auch zuhause einem Kinogefühl nahe kommen, in dieses wunderschöne Kino schicken.

Total im Trend auch der Geruch der diesjährigen Berlinale: Im Kinosaal duftet es diesmal nach Desinfektionsmittel. Damit hätte ich mir auch gerne die Augen nach zwei Kinobesuchen geputzt, um das Gesehene zu entfernen, hab heute gleich zwei ziemlich schreckliche Filme gesehen, davon darf ich aber erst morgen berichten.

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