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Den Goldenen Bären für den neuen Spielfilm "Sheytan vojud nadarad" ("There is no evil") nimmt Samstagabend die Tochter des Regisseurs Mohammad Rasoulofs entgegen.

Alexander Janetzko / Berlinale 2020

Berlinale: Szenenapplaus für eine gähnende Katze

Eine Wasserfrau triumphiert und eine Katze verursacht Lachkrämpfe. Die Bären der 70. Berlinale sind vergeben.

Von Maria Motter

Den Goldenen Bären für den neuen Spielfilm "Sheytan vojud nadarad" ("There is no evil") nimmt Samstagabend die Tochter des Regisseurs Mohammad Rasoulofs entgegen.

Alexander Janetzko / Berlinale 2020

Mohammad Rasoulofs Filme seien „Propaganda gegen den Staat“, so urteilte ein iranischer Richter im Vorjahr und verurteilte den preisgekrönten Regisseur zu einem Jahr Haft. Diese Haftstrafe musste Mohammad Rasoulof noch nicht antreten. Doch auf der Berlinale bleibt der für ihn reservierte Platz leer: Rasoulof darf nicht aus dem Iran ausreisen. Den Goldenen Bären für seinen neuen Spielfilm „Sheytan vojud nadarad“ („There is no evil“) nimmt Samstagabend seine Tochter Baran Rasoulof entgegen. Viele des Filmteams weinen, Standing Ovations im Berlinale Palast.

Der beste Film der Berlinale verknüpft vier Geschichten um moralische Integrität und den Henker von nebenan. „There is no evil“ ist ein typischer Berlinale-Sieger-Film, im klassischen Sinn: Hier wird über totalitäre Systeme und die Todesstrafe reflektiert. Die Berlinale gibt sich auch mit den Gewinnerfilmen 2020 politisch.

Baran Rasoulof hinter einem Netzgitter. Filmstill aus "There is no evil".

Cosmopol Film

„There is no evil“ ist der beste Film der Berlinale 2020.

Beste Regie: Hong Sangsoo inszenierte eine Katze punktgenau

Den Silbernen Bären für die beste Regie nimmt der südkoreanische Regisseur Hong Sangsoo für den banal bis charmant geschwätzigen „Domangchin yeoja“ („The Woman Who Ran“) entgegen. Der Film kommt mit nur wenigen, dafür langen Einstellungen und absichtlich wie amateurhaft wirkenden Zooms aus und hauptsächlich unterhalten sich drei Frauen über nervige Männer. Ein Highlight ist der punktgenaue und lustige Auftritt einer Katze: Nach einem gefühlt zehn-minütigen Dialog zoomt die Kamera auf das Tier, das dann noch gähnt, dass man vor Lachen nicht mehr kann. Dafür gab’s Szenenapplaus bei einer der Vorführungen in Berlin.

Eliza Hittmans Hit: Ein Abtreibungsdrama ohne Gefühlsduselei

„Wir danken diesen Organisationen für ihren Dienst an der Gesellschaft und den Schutz der Rechte aller Menschen in unserer Gesellschaft, die einen Uterus haben“, sagt Eliza Hittman. Die US-amerikanische Regisseurin bekommt den Silbernen Bären Großer Preis der Jury für ihren zweiten Spielfilm „Never rarely sometimes always“. Bei ihren Recherchen für den Film, der komplett ohne Gefühlsduselei auskommt, hat Eliza Hittman viel Zeit mit der Organisation Planned Parenthood und in anderen Kliniken wie „Choices“ in Queens verbracht, sie hat mit Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen gesprochen. „Es war eine Erfahrung, die mich sehr demütig gemacht hat“, so Hittman.

Ein Mädchen steht auf der Straße und schaut, auf der anderen Straßenseite ist eine Gruppe von Demonstranten. Filmstill aus "Never rarely sometimes always".

2019 Courtesy of Focus Features

Ein feministischer, entschlossener Film: Eliza Hittmans „Never rarely sometimes always“ mit Talia Ryder.

Die Berlinale 2020 auf fm4.orf.at:
„Mittendrin in der Berlinale“ und „Verloren in Berlin“ von Pia Reiser.

Eine Klasse für sich sind die Hauptdarstellerinnen von „Never rarely sometimes always“: Wie Talia Ryder als Skylar einen großen Koffer in Subway-Stationen über Drehkreuze hievt, als sie ihre siebzehnjährige Cousine Autumn (Sidney Flanigan) vom Land in die Stadt New York begleitet, erzählt so viel: Dieser Koffer, der wohl für Familienreisen angeschafft worden ist, wird mitgenommen, weil er auch zurückgebracht werden will.

Diese Mädchen haben einen Plan und daran halten sie fest wie an dem Ungetüm von Koffer. Der starke Wille der Mädchen wird in vielen Nahaufnahmen verdeutlicht. Und durch die streng verantwortungsbewusste Befragung durch eine Ärztin bleibt kein Zweifel, dass hier einer jungen Frau klar wird, welcher Behandlung Frauen in ihrer Gesellschaft ständig ausgesetzt sind. „Never rarely, sometimes always“ ist ein hoch politischer Film, der seine Wirkung aus der Nähe zu den Protagonistinnen zieht. Die Filmmusik ist von Julia Holter.

Paula Beer ist „Undine“

Paula Beer wird für ihre Darstellung der „Undine“ in Christian Petzolds neuem Spielfilm als beste Schauspielerin mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Die deutsche Schauspielerin will die Auszeichnung auch als eine für ihren „wundervollsten Spiel-Mann“ und Kollegen Franz Rogowski verstanden wissen – der bereits in Petzolds letztem Drama, der ergreifend großartigen filmischen Adaption von Anna Seghers Roman „Transit“, die im Marseille der Gegenwart gedreht worden war, mit ihr vor der Kamera stand: „Ein Liebespaar zu spielen, ist das Schönste und das Schwierigste zugleich“.

Paula Beer und Franz Rogowski spazieren eng umschlungen, Paula Beer blickt zurück - Fimstill aus "Undine".

Hans Fromm/Schramm Film

Paula Beer und Franz Rogowski in Christian Petzolds bezaubernder „Undine“

Schwer verliebt man sich beim Zuschauen: „Undine“ ist Christian Petzolds Bearbeitung des Mythos der Wasserfrau, die in der deutschsprachigen Literaturgeschichte mit der Romantik wieder öfter aufgetaucht ist. „Undine“ kommt vom lateinischen Wort „unda“ für Welle. In menschlicher Gestalt erscheint sie Männern, wenn diese sie rufen. Sollten die Männer Undine aber betrügen, muss Undine ihnen das Leben nehmen und sie muss zurück ins Wasser. Franz Rogowski spielt einen Industrietaucher in diesem Film, der wie zwei weitere im Wettbewerb – „Berlin Alexanderplatz“ und „Schwesterlein“ mit Nina Hoss (auch hier herausragend) und Lars Eidinger als an Leukämie erkrankten Bruder – auch Berlin als Schauplatz hat.

Paula Beer trägt einen Blazer über einer Bluse und steht vor einem Stadtplan Berlins. Filmstill aus "Undine".

Marco Krüger/Schramm Film

„Undine“ ist einer von drei Berlin-Filmen im Wettbewerb der Berlinale

"Wollen wir retro leben, uns also zum Beispiel ein Stadtschloss bauen, obwohl keiner so recht weiß, wozu diese Humboldt Forum-Hülle dann gut sein soll? Wollen wir andererseits ‚Manufactum-Filme‘ drehen, um uns einer scheinbar guten alten Zeit zu vergewissern? Als Undine verkörpert Paula Beer für mich eine moderne Haltung, indem sie sagt: Ich steig’ jetzt aus“, sagt Christian Petzold in einem Interview über seine bezaubernde „Undine“. Danach will man weiter Víkingur Ólafsson Bach spielen hören.

Elio Germano ist der Maler Antonio Ligabue

Elio Germano wird als bester Schauspieler mit einem Bären ausgezeichnet – für seine Verkörperung des Künstlers Antonio Ligabue, der wiederum immer gesagt haben soll, dass über ihn noch einmal ein Film gedreht werden würde. Elio Germano ist zudem in dem super italienischen Film „Favolacce“ zu sehen, der eine exzellente Geschichte wunderschön umsetzt.

„Favolacce“ bricht mit dem Klischee der glücklichen (italienischen) Familie. Es sind die Kinder im Volksschulalter, die den Erwachsenen als letzte Hoffnung vor dem sozialen Abstieg gelten. Längst ist vieles weniger als prekär, die Brutalität der Erwachsenen bestimmt die Stimmung des Dramas, das viel vom Kindsein erzählt, ohne auch nur eine Sekunde kitschig zu wirken. Da klatschen Kinder einander Wasserbomben auf die Körper und kichern, da bangen sie vor dem Wahnwitz und Wutausbrüchen der Väter. Es gibt Momente zum Lachen und Momente zum Bangen. Bereits der Anfang ist ein kluger Schachzug: Aus dem Off erklärt jemand, der Film beruhe auf einer wahren Begebenheit und diese Begebenheit beruhe auf einer Lüge. Und für das Drehbuch zu „Favolacce“ gewann das Brüderpaar D’Innocenzo den Silbernen Bären – bestes Drehbuch!

„Effacer l’historique“ ist der lustigste Film im Wettbewerb

Der lustigste Film im Wettbewerb der 70. Berlinale heißt “Effacer l’historique” und der Titel bezieht sich auf die vielfach nur vermeintliche Möglichkeit, den Verlauf der Dinge im Internet auch wieder löschen zu können. Der Trailer wird der Tragikomödie nicht gerecht – „Effacer l’historique“ ist eine famose Abrechnung mit Digitalisierung und der Verblödung durch diverse Services, von Streaming-Diensten bis Hauszustellung via Drohne.

Im Film verbünden sich drei Nachbar*innen, die jede*r für sich ein Opfer von Social-Media und der Digitalisierung geworden sind, einander jedoch erst seit den Protesten der Gelbwesten am Kreisverkehr ihres Orts beim Namen kennen. Die drei beschließen zurückzuschlagen. Auch der bedenkenswerte Satz „My pussy is in the cloud!“, wird fallen. Der Soundtrack kommt von Daniel Johnston.

Ein Mann zeigt einer Frau ein Video auf einem Smartphone. Filmstill aus "Effacer l'historique".

Les films du Worso/No Money Productions

„Effacer l’historique“

„Je mehr Daten wir in unsere Mobiltelefone füttern, desto weniger graue Zellen“, lautet die Überschlagsrechnung des Regieduos Benoît Delépine und Gustave Kervern bei der Preisverleihung. In ihrer Komödie flutscht die Message ohne Zeigefinger.

Ein Silberner Bär für einen Aufregerfilm

Für eine herausragende künstlerische Leistung ist auch ein silberner Bär gegossen worden, den bekommt der Kameramann Jürgen Jürges für seine Arbeit an „DAU. Natasha“ – jenem Film, der am meisten Empörung hervorrief – neben dem Dokumentarfilm „Irradiés“ von Rithy Panh, der die Leinwand in drei Bilder teilt und so ein Triptychon an Gräueltaten zusammenstellt, indem er Leichenberge der nationalsozialistischen Vernichtungslager, Folter von Menschen und Tieren und Gräueltaten von Kambodscha bis Ruanda auf das Publikum einprasseln lässt. Aufstehen, rausgehen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen ist auch eine Option an einem Sonntag in Berlin.

Die 70. Berlinale ist ein zaghafter Neuanfang

Jeder will ein Bärli mitnehmen: Smartphones leuchten immer, wenn der Festivaltrailer der Berlinale eine Art Feuerwerk aus goldenen Bären auf der Leinwand zeigt. Lautlose Kameraklicks. Die 70. (!) Berlinale ist die erste von Carlo Chatrian, zuvor beim Filmfestival Locarno, als künstlerischem Leiter und Monika Rissenbeek als Geschäftsführerin. Wie klug die beiden die Berlinale angegangen sind, zeigt sich etwa an der Beibehaltung des Trailers oder den Verkaufszahlen. Laut Angaben des Festivals waren bereits Mitte des Festivals 20.000 Tickets mehr als im Vorjahr verkauft. Die Kinos sind selbst mittags voll besetzt. Und die Berlinale bespielt etwa den Friedrichstadt-Palast, in dem allein 1.400 Menschen Platz finden.

Der Berlinale-Trailer

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Beste Leben: Zehn Tage im Kino!

Andere Intendant*innen entfernen im ersten Arbeitsschritt das Logo, die Berlinale-Doppelspitze hat indes eine neue Programmschiene geschaffen: „Encounters“ will „ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden eine Plattform bieten“.

Und das freut auch Sandra Wollner: Die österreichische Regisseurin gewinnt für ihren Spielfilm „The Trouble With Being Born“ den Spezialpreis der „Encounters“-Jury. „The Trouble With Being Born“ ist eine Geschichte, die den Mythos vom Maschinenmenschen in unserer Gegenwart ansiedelt und teils mit sexuellen Projektionen auflädt. Dass der Androide im Film wie ein Menschenskind, ja wie ein Mädchen aussieht, wird noch zu weiteren Diskussionen führen. Die Hauptdarstellerin trug bei den Dreharbeiten jedenfalls eine Silikonmaske.

Geht es um Serien, so ist die Berlinale seit längerem future: Als erstes Filmfestival präsentierte die Berlinale Serien. Dieses Jahr liefen u.a. die ersten Episoden von Cate Blanchetts „Stateless“ und Marvin Krens ORF/Netflix-Mystery-Thriller „Freud“. Fortsetzung folgt bald im Fernsehen: „Freud“ läuft ab 15. März in ORF 1.

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