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Cover von England Is A Garden

Ample Play Records

ROBERT ROTIFER

„Don’t care about no government warning“

Diese Woche auf FM4 Heartbeat: Ein Interview mit Tjinder Singh über das essentielle neue Cornershop-Album „England is a Garden“ - und hier die lange Vorgeschichte aus persönlicher Sicht.

Von Robert Rotifer

Es fiel uns erst nach ein, zwei Jahren auf.

J und ich waren nun das, was man damals, Ende der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts, noch ziemlich wertfrei und unschuldig „integriert“ nannte. Wir hatten uns seit unserem Umzug aus Wien einen Londoner Freund*innenkreis aufgebaut, der dafür sorgte, dass wir uns in unserer neuen Stadt zu Hause fühlten. Aber auffälligerweise waren darunter so gut wie keine geborenen Londoner*innen.

Das lag wohl einerseits daran, dass ein großer Teil der dortigen Musikszene, aber auch der Leute, die wir sonst so kennenlernten, schon damals aus Zugewanderten bestand. Und dazu zähle ich auch all jene, die aus den Midlands, dem englischen Norden, den Home Counties, Schottland oder Wales gekommen waren.

Andererseits schien es da aber auch eine Art selbsttätigen, unbewussten Magnetismus zu geben, der uns gegenseitig anzog, aber auch von der indigenen Londoner Bevölkerung trennte (ironischerweise entstanden all unsere Freundschaften mit Londoner Eingeborenen dann erst nach unserem Umzug nach Canterbury im Jahr 2004).

Die erste, engere Beziehung entwickelte sich zu Marie Rémy und Tjinder Singh: Sie eine vor uns nach London gezogene, anglophile Französin, er aus Wolverhampton in den Midlands.

Ich hatte Tjinder 1993 für die Ö3 Musicbox interviewt. Damals war mir bei einem London-Aufenthalt im Rough Trade Record Shop in der Talbot Road eine Single seiner Band Cornershop in die Hände gefallen. Eine jener Platten, von denen ich schon vom ersten Anblick des Covers weg wusste, dass ich sie haben musste.

Cornershop Single "In the Days of Ford Cortina"

Robert Rotifer

Auf der Vorderseite des Covers, unter dem Titel „In the days of Ford Cortina“ war das offenbar in den Siebzigerjahren aufgenommene Foto einer Klasse von Schulkindern zu sehen, die sich anstellt, in einen Bus zu steigen.

Außer der Lehrerin und ein paar Kindern, deren Gesichter von der Kamera abgewendet sind, waren dabei alle Schüler*innen eindeutig erkennbar als das, was man in Großbritannien „Asians“ nennt. Also Kinder, deren Haut- und Haarfarbe auf eine Herkunft ihrer Familien aus dem ehemaligen Raj, sprich Indien, Pakistan, Bangladesh und Sri Lanka schließen ließ.

Cornershop Single "In the Days of Ford Cortina"

Robert Rotifer

Auf der Rückseite wiederum ein blau-weiß-rotes Bull’s-Eye-Target, das damals noch nicht so abgegriffene Erkennungszeichen der Mod-Bewegung. Aber die Songtitel dazu ließen erkennen, dass es hier um etwas ganz anderes als anglozentrische Sixties-Brauchtumspflege ging: „Hanif Kureishi Scene – Waterlogged – Moonshine – Kawasaki (more heat than chapati)“

Cornershop Single "In the Days of Ford Cortina"

Robert Rotifer

Ich ließ mir die Platte vorspielen, und meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht. Ich hörte die verzerrte, mitreißend zornige Stimme des Sängers, die schlingernde, von gängigen Vorstellungen von Timing und Tonart unbeeindruckte Einheit von Bass, Schlagzeug und Gitarren und das hin und wieder durch die Soundwolke dringende Gezupfe und Geschnarre einer Sitar.

Cornershop Single "In the Days of Ford Cortina"

Robert Rotifer

Die Verkäuferin, die mich damals schon als diesen Journalistentypen aus Österreich kannte (ich hatte einmal eine ganze Musicbox über den Rough Trade Record Shop gemacht), erklärte mir, dass das Label dieser Band im Keller des Plattengeschäfts zu finden sei. Wie ich später dekodieren sollte, war der Label-Namen „Wiiija Records“ eine Abwandlung der Postleitzahl des Geschäftslokals: W11 1JA.

Sie führte mich also die Stiegen hinab und stellte mir einen kleinen Brillenträger namens Gary Walker vor, der da unten ohne Sonnenlicht zwischen Kartons von Platten von Bands wie Cornershop, Huggy Bear oder Jacob’s Mouse an einem Schreibtisch saß.

Gary war begeistert über mein Interesse – keine Spur der bei anderen Labels so oft anzutreffenden englischen Arroganz – und sagte mir, dass Cornershop in ein paar Tagen in einem Lokal namens „Power – Haus“ in Angel spielen würden.
Wir arrangierten einen Interview-Termin.

Das wurde dann mein erstes Treffen mit Tjinder, mein erster Anblick seiner schwarzen Koteletten zu schwarzen flared Sta-Prests zu grünem Seventies-Hemd und dunkelblauem Seventies-Nadelstreif-Sakko.

Ich packte mein tragbares Bandgerät aus dem Lagerbestand des Funkhauses aus, und wir füllten zwei Viertel-Zoll-Tonbänder mit Geschichten über seine Herkunft in der Sikh-Community von Wolverhampton, sowie starken Meinungen zum Rassismus der britischen Musikindustrie und zum von Cornershop medienwirksam inszenierten Protest gegen die sich bereits abzeichnenden (aber von vielen verleugneten) rassistischen Tendenzen von Morrissey. Dessen Zeile „I was happy in the haze of a drunken hour“ aus „Heaven Knows I’m Miserable Now“ beantwortete Tjinder im Cornershop-Song „England’s Dreaming“ mit einem Public-Enemy-Zitat: „Fight the power!“

Die jungen Cornershop beim Verbrennen von Morrissey-Posters vor der EMI-Zentrale 1992

Pav Modelski / Cornershop.com

1992: Cornershop verbrennen Morrissey-Poster vor der alten EMI-Zentrale am Manchester Square.

Die aktionistische Idee, vor dem EMI-Hauptquartier Morrissey-Posters zu verbrennen, brachte der Band damals viel Häme seitens der Musikpresse ein. Und der in sämtlichen Verrissen als Vorwand zum Ignorieren ihrer Botschaft vorgebrachte Vorwurf der musikalischen Inkompetenz klang verdächtig nach einem Echo des populären Mythos, Asians „könnten halt nicht Fußball spielen“.

Bis zum Jahr 1997, als wir nach London zogen, hatte sich all das bereits entschieden verändert. Nicht von selbst, sondern weil in der Zwischenzeit eine kritische Menge an Asians beschlossen hatte, sich nicht mehr in die Ecke stellen zu lassen.

Einmal die Woche pilgerten wir mit Tjinder und Marie zu einem Club namens „Anokha – Soundz of the Asian Underground“ im Blue Note am damals noch nicht von der Gentrifizierung erfassten Hoxton Square, betrieben vom DJ und Musiker Talvin Singh (keine Verwandtschaft zu Tjinder, Singh bedeutet auf Punjabi soviel wie „Herr“ im Sinne einer Anrede, wurde also von vielen Sikhs als neutraler, nichts über die genaue Herkunft verratender Nachname angenommen).

Zwischendurch verbrachten wir viel Zeit auf der Gäste-Couch der Eastcote Studios nahe dem Ladbroke Grove, wo Cornershop ihr neues Album aufnahmen – immer auf ausdrückliche Einladung Tjinders, der unsere Anwesenheit ermutigend oder zumindest angenehm zu finden schien.

Einer der Songs, dessen Jonathan-Richman-artige Rhythmusgitarre sich schon vor dem Einsingen der Vocals in mein Hirn bohrte, war „Brimful of Asha“, benannt nach der Bollywood-Sängerin Asha Bhosle.

Niemand hätte es damals geahnt, aber dieser Song sollte, dank eines beschleunigten Remix von Fatboy Slim, den jener ungefragt in Eigenregie angefertigt hatte, zum britischen Sommerhit des Jahres werden.
Ein Song, der in seinen nostalgischen Bezügen auf Tjinders von indischer Kultur durchdrungene Kindheit dem modernen Selbstbild Großbritanniens als gelungene, multikulturelle Gesellschaft schmeichelte.

Alle mochten die freche Zeile „Everybody needs a bosom for a pillow“, die tatsächlich mehr mit den Sehnsüchten eines Kindes als mit Sex zu tun hatte, niemand schien sich zu fragen, was „She’s the one that keeps the dream alive / From the morning past the evening till the end of the light“ eigentlich bedeuten sollte.

Welchen Traum hielt Asha Bhosles Stimme am Leben, außer dem, einmal wieder zum Ursprung dieser Musik zurückkehren zu können?

Und wenige fragten sich, was hinter der Strophe „We don’t care about no government warning / About their promotion of the simple life / And the dams they’re building“ steckte, nämlich die kontroversen Dammbauten in Indien, denen ganze Communities zum Opfer fielen.

Man könnte meinen, Tjinder wäre entzückt darüber gewesen, was ihm da in den Mainstream zu schmuggeln gelungen war. Aber das Gegenteil war der Fall. Bei seinen Fernsehauftritten stand er wie eingefroren da, ein Bild des puren Unwohlseins.

Der Erfolg von „Brimful of Asha“ sollte sein und Maries Leben verändern und in der handelsüblichen Erzählung der jüngeren Popgeschichte ein Zerrbild von Cornershop als One-Hit-Wonder verankern. Das hatte nebst der Faulheit der handelsüblichen Erzähler*innen auch damit zu tun, dass Tjinder sich und seine Band, reduziert auf seinen Partner Ben Ayres und einen Kreis von Sessionmusiker*innen, mit den Jahren von der Bühne, ja zunehmend auch seine Stimme und seine Gitarre aus seinen Platten zurückzog.

Irgendwann im neuen Jahrtausend verlief sich der Kontakt zwischen uns. Sowohl Tjinder und Marie als auch J und ich hatten Kinder gekriegt, und nach unseren Umzügen nach Stoke Newington bzw. Canterbury war die örtliche Distanz auch unpraktisch groß geworden.

Aber wir sollten uns dann 2016 wiedersehen, bezeichnenderweise bei der ersten großen Anti-Brexit-Demo.

Die Opposition zum von einem rückwärtsgewandten Zeitgeist befeuerten EU-Austritt hatte uns erneut zusammengebracht, aber ich war natürlich zu höflich, Tjinder zu fragen, ob er denn an einer neuen Cornershop-Platte arbeitete.

Daher wusste ich auch nicht, was mich erwartete, als das von Marie geführte Eigenlabel Ample Play Records für den 6. März 2020 die Veröffentlichung von England is a Garden ankündigte.

Tjinder Singh und Ben Ayres 2020

Ample Play Records

Tjinder Singh und Ben Ayres heute

Was dann in meine Inbox flatterte, war genau jenes Album, das nicht nur wir Zugewanderte, sondern auch unsere indigenen Verbündeten brauchen. Eine Platte, die mühelos einen weiten Bogen schlägt, vom Kleingeistbritannien der Gegenwart über die falschen Hoffnungen der Neunziger bis zu den Days of Ford Cortina von Tjinders Kindheit und der rassistischen Propaganda eines Enoch Powell im Jahre seiner Geburt 1968. Und die trotz all dem dieselbe, umso lebensbejahendere Dringlichkeit der Zeiten von „When I Was Born...“ in sich trägt. Selbst Tjinders Stimme und Gitarre sind in den Vordergrund zurückgekehrt.

Cover von England Is A Garden

Ample Play Records

Cornershop: „England is a Garden“, das gewohnt kryptische Albumcover, nicht unbedingt die heilige Johanna, wie man annehmen könnte.

Letzte Woche besuchte ich ihn zu Hause, um ihn für meine Sendung zu seinem großen Wurf zu befragen. Tjinders Koteletten sind mittlerweile ergraut, aber er wirkte aufgeweckter, als ich ihn in über 20 Jahren erlebt hatte. Und er erzählte mir dabei Geschichten aus seiner Jugend, die er in früheren Interviews nur in skizzenhafter, kodierter Form anklingen hatte lassen. Wahrscheinlich auch, weil ich in der Zwischenzeit die Scheu meines früheren, so viel cooleren Ichs abgelegt hatte, ihn direkt danach zu fragen.

Eine editierte Fassung unseres Gesprächs, sowie ausgewählte Songs aus dem neuen und dem Frühwerk von Cornershop sind für den Rest der Woche hier auf unserem Player in der zweiten Stunde meiner gestrigen Ausgabe von FM4 Heartbeat zu hören.

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