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Flüchtlinge an der griechisch türkischen Grenze

APA/AFP/Sakis MITROLIDIS

griechenland

Staatliche Repression und fremdenfeindliche Hysterie

Entlang der griechisch-türkischen Grenze herrscht eine explosive Stimmung. Medien berichten über einen Toten. Ein großer Teil der Bevölkerung versinkt in eine fremdenfeindliche Hysterie. Neonazis aus ganz Europa begeben sich in die Region.

Von Chrissi Wilkens

Seit vergangen Freitag versuchen tausende Schutzsuchende die türkisch-griechische Grenze in der Evros Region zu überqueren, nachdem Ankara angekündigt hat, dass es die Menschen - trotz des umstrittenen Abkommens mit der EU vom März 2016 - auf ihrem Fluchtweg nach Europa nicht mehr aufhalten werde. Griechenland verschärfte sofort seine Grenzkontrollen im Namen einer „asymmetrischen Bedrohung“.

Soldaten und Spezialeinsatzkräfte im Grenzgebiet wurden verstärkt. Griechische Sicherheitskräfte setzten mehrfach Blendgranaten, Tränengas und Wasserwerfer ein. Ausländische Medien berichten sogar von Plastikkugeln.

Migranten mit ausländischen Mobiltelefonen aus der Türkei erhielten SMS, in denen sie gewarnt wurden, nicht nach Griechenland zu kommen.

In Brüssel erhielt eine Journalistin auf ihre Frage, ob es legal sei, Plastikkugeln gegen Flüchtlinge einzusetzen, von einem Vertreter der EU–Kommission keine klare Antwort. Es würde von Umständen abhängen.

Ausgerechnet in dieser Zeit der Eskalation führte die Armee zudem Schießübungen mit scharfer Munition sowohl in Evros als auch in der Ägäis durch. Die griechischen Massenmedien verstärken das Bild einer Bedrohung.

Inzwischen gibt es auch Berichte, dass türkische Behörden per Lautsprecher die Menschen an der Grenze auffordern, die griechischen Sicherheitskräfte anzugreifen. Ankara hat heute angekündigt, 1000 Polizisten an die Grenze zu schicken, um illegale Zurückschiebungen von Griechenland zu verhindern.

Obwohl die griechische Regierung immer wieder dementiert, dass ein Mann beim Versuch die Grenze zu überqueren erschossen worden sei, gibt es immer wieder Berichte darüber. Die britische Kunst- und Rechercheagentur Forensic Architecture hat sogar ein Analyse-Video mit dem Titel „The Killing of Muhammad al-Arab“ veröffentlicht.

Seitens der EU-Führung gab es darauf keine Reaktion. Stattdessen schickt die EU-Grenzschutzagentur Frontex zusätzliche Grenzschützer in die Region.

Die letzten Tage gab es auch Berichte über Flüchtlinge, die durch Manöver der griechischen Küstenwache in Seenot gerieten. Schüsse und andere Angriffe auf Flüchtlingsboote wurden ebenso dokumentiert wie ein Fall illegaler Zurückweisungen (push backs) durch die Behörden. Am Dienstag kam ein 6-jähriges Mädchen ums Leben, als ein Schlauchboot mit 46 Menschen an Bord vor Lesbos kenterte.

Flüchtlinge an der griechisch türkischen Grenze

APA/AFP/BULENT KILIC

Normalisierung der staatlichen Gewalt

Die Normalisierung der staatlichen Gewalt schafft auch Raum für rassistische Exzesse durch einfache Bürger. Auf den Inseln attackieren seit Tagen außer Kontrolle geratene Mobs NGO-MitarbeiterInnen, JournalistInnen und Geflüchtete. Sie blockieren Zufahrtstraßen zu den „Hotspots“ in Lesbos und Chios und ihren Dörfern, um die Regierung dazu zu zwingen, Neuankommende ans Festland zu transferieren. Schlauchboote mit Flüchtlingen werden angegriffen. Helfer auf den Ägäis Inseln fürchten um ihre Leben.

Eine ähnliche Stimmung herrscht auch an der Landgrenze. Auch in Evros wurde ein Journalist verprügelt, der Zeuge davon geworden war, wie Einheimische einen Flüchtling misshandelten. Tag und Nacht führen Bürgerwehren Patrouillen durch und fahren mit Autos, Traktoren und Booten an der Grenze entlang, um Schutzsuchende wegzujagen. Solche Patrouillen werden bis jetzt von den Behörden toleriert und von regierungsnahen Medien sogar gelobt. Seit Tagen wird in europäischen Neonazi-Chatgruppen offen darüber gesprochen, den griechischen „Kameraden“ beim Grenzschutz unter die Arme zu greifen. Mehrere Rechtsextreme sollen bereits vor Ort sein.

Ein Verleger einer lokalen Zeitung der Region Evros kritisiert den fremdenfeindlichen Exzess seiner Mitbürger und fordert die Unterstützung progressiver GriechInnen: „In Evros passieren gerade unglaubliche Dinge. Ein nationalistischer und intoleranter Tsunami fegt über unser Land. Jeder hat sich bewaffnet und stellt sich als Miliz gegen die ‚Invasion‘ von Migranten und Flüchtlingen dar“, schreibt er auf Facebook.

Auch aus anderen Teilen Griechenlands wie z.B Kreta meldeten sich schon Freiwillige die bereit sind an die ‚Front‘ zu gehen und Patrouillen zu verstärken. Griechische Unternehmer senden logistische Ausrüstung an Evros. Angestellte einer Gemeinde Thessalonikis schicken Plastikhandschellen an die Sicherheitskräfte vor Ort.

Das internationale Recht wird unter den Augen der restlichen EU-Mitgliedstaaten gebrochen. Seit März hat Griechenland das Asylrecht ausgesetzt und akzeptiert für vorläufig einen Monat keine Asylanträge mehr. Wer das Land irregulär betritt, soll einfach abgeschoben werden. Dutzende Personen wurden bereits in den Grenzregion Evros festgenommen, nachdem sie es geschafft hatten griechisches Territorium zu betreten. Sie sollen nach einem Gerichtsbeschluss alleine wegen dieser irregulären Einreise für vier Jahre ins Gefängnis und eine Geldstrafe von jeweils 10.000 Euro bezahlen. Wer auf den Inseln ankommt wird registriert und mit Militärschiffen in neue Abschiebelager auf dem Festland gebracht. Von dort sollen sie entweder in die Türkei oder in ihre Heimatstaaten zurückgeschickt werden. Es ist unklar, wie das genau ablaufen soll.

Menschenrechtler schlagen Alarm

Der Kommissar für Menschenrechte des Europarats ruft zu dringenden Maßnahmen auf, damit die Situation nicht weiter eskaliert. Der UN-Flüchtlingsrat betonte in einer Erklärung, dass weder die Flüchtlingskonvention von 1951 noch das EU-Flüchtlingsrecht eine Grundlage für die Aussetzung der Registrierung von Asylanträgen bieten. Die Nationale Kommission für Menschenrechte, ein unabhängiges Beratungsgremium des griechischen Staates in Menschenrechtsfragen, fordert die Regierung auf, die Entscheidung, das Asylrecht für einen Monat auszusetzen, zurückzunehmen. Sie fordert außerdem, dass der Staat einen positiven Beitrag zur Bekämpfung von Gewalt, einschließlich rassistischer Gewalt, leistet. Dazu ruft sie die Regierung und die lokalen Behörden auf, Besonnenheit und Einmütigkeit zu zeigen, indem sie endgültig auf eine Rhetorik verzichten, die fremdenfeindliche Reflexe forciert.

EU-PolitikerInnen und die griechische Regierungsspitze

APA/AFP/STR

Währenddessen hat die US-Botschaft eine Sicherheitswarnung für ihre BürgerInnen ausgesprochen. Auf Lesbos und an der Landgrenze in der Region Evros gäbe es Straßensperren, Proteste und gewaltsame Zusammenstöße.Bei ihrem Besuch im Evros Gebiet hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kein Wort und über die Gewalt gegen Geflüchtete an der Grenze verloren. Sie betonte, dass „die Aufrechterhaltung der Ordnung an unserer Außengrenze Vorrang“ hat. Griechenland und Europa setzen auf Abschottung anstatt auf ein europäisches Umverteilungsprogramm. Bis jetzt haben sich nur vier Länder freiwillig bereit erklärt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen.

Statt Umverteilung bekommt Athen nun wieder Gelder von der EU um mit der „Krise“ an den externen Grenzen allein fertig zu werden. Die Europäische Union wird bis zu 700 Millionen Euro zur Verfügung stellen, die vor allem in Grenzschutz, Abschiebehaft und Rückkehrprogramme fließen sollen. Obwohl mittlerweile klar ist, dass das berüchtigte EU-Türkei-Abkommen fundamentale Rechte Schutzsuchender verletzt und auf den Ägäis-Inseln eine humanitäre Krise enormen Ausmaßes ausgelöst hat, halten die Europäer auch heute daran fest. Auch wenn Erdogan dieses Abkommen durch seine letzten Entscheidungen faktisch ausgehebelt hat.

Schutzsuchende die bereits in Griechenland sind und hier Asylantrag gestellt haben, sind schockiert über die aktuelle Lage. Die Situation an den Grenzen Griechenlands gleicht einem Krieg gegen Geflüchtete. A. aus dem Irak, der seit Monaten in einem Zelt in einem „Hotspot“ auf einer Ägäis-Insel auf sein Asyl-Interview wartet und währenddessen den Nachrichten folgt, sagt erschöpft: „Ich fühle mich, als ob ich keine Luft mehr bekommen kann. Als ob ich in einem Raum gefangen bin, ohne Fenster, ohne Tür“.

Für heute, Donnerstag, wurden in verschiedenen Städten Griechenlands Demonstrationen zur Solidarität mit Geflüchteten, gegen die staatliche Gewalt und wachsenden Rassismus angekündigt.

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