Elevate Festival: Musik als Natur des Menschen
Vier Rotorblätter drehen sich im Uhrzeigersinn. An ihren Enden sind Lautsprecher montiert, die Töne aussenden, dahinter blitzt eine Stroboskopröhre. Das Brummen, Pfeifen und Sausen schraubt sich in Kreisen durch das Kirchenschiff, es ist, als sänge die Luft. Der österreichische Klangkünstler Peter Kutin präsentiert am Elevate-Donnerstag im Mausoleum des Grazer Doms seine Soundinstallation Torso#1, für die er bei der letzten Ars Electronica mit der Goldenen Nica ausgezeichnet wurde.
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- Die Klimafrage ist eine soziale Frage. Das Elevate Festival ist eröffnet: In den kommenden Tagen wird in Graz die Natur des Menschen besprochen und es wird getanzt.
Auf wundersame Weise bringt diese blinkende Ton-Licht-Maschine das Festivalmotto des diesjährigen Elevate auf den Punkt: „Human Nature“, das knappe Leitmotiv, meint nicht nur die Eigenheiten des menschlichen Seins, sondern kann auch als Beziehung zwischen den Welten „Mensch“ und „Natur“, oder auch „Kunst“ und „Realität“ verstanden werden. Die Skulptur vereint mit ihrer simplen und genialen Idee beides: Die Töne bewegen sich nach physikalischen Prinzipien, während sie auf ästhetische Weise zu Musik werden. Psychoakustische Vorgänge machen das Werk körperlich erfahrbar, sie transzendieren ihre Entstehung aber im selben Augenblick.
Clara Wildberger
Der Spagat zwischen der sinnliche Erfahrung von Kunst und der Bodenhaftung zur echten Welt ist die Spezialität des auch heuer wieder hervorragend kuratierten Elevate Festivals. Die Konzerte und Partys bilden hier keinen rein eskapistischen Kontrast zum umfangreichen Diskursprogramm, sondern greifen im besten Fall Themen daraus auf oder stellen einen sonstigen Bezug zur Gegenwart her. Ein Festival ist immer auch eine Gelegenheit, um Kraft zu schöpfen, meinte der deutsche Denker Jacob Sylvester Bilabel am Mittwoch bei der Elevate-Eröffnungsgala, denn die Utopie einer offenen, aufmerksamen Gemeinschaft werde hier immer für ein paar Tage Wirklichkeit: „Es kann also wirklich funktionieren.“ Wir wollen es gern glauben.
David Višnjić
Auf der Dom im Berg-Stage, die in der Freitagnacht von FM4 gehosted wird, reichen sich im Lauf des Festivals Pop und Clubmusik die Hände, dargestellt in Personalunion beispielsweise durch Jessy Lanza. R’n’B ist die Grundlage, auf der die kanadische Musikerin ihre futuristischen Popsongs aufbaut: Kühl und doch mit Augenzwinkern, futuristisch und doch organisch, verspielt und herrlich komisch. „Once I’m spinning, I can’t stop spinning“, heißt es etwa im Refrain ihrer aktuellen Single „Lick in heaven“, und während man bei dessen zuckrig-glitzernden Synth-Pop-Sounds das Wirbeln etwa als das Auflegen von Platten oder das Über-den-Dancefloor-Fegen interpretieren würde, geht es darin eigentlich um einen Wutanfall, der nicht mehr zu stoppen ist. Mitproduziert wird Jessy Lanzas Musik seit jeher von Jeremy Greenspan von den Disco-Poppern Junior Boys. Dieses Match made in music heaven findet auch auf dem kommenden, dritten Album von Jessy Lanza wieder zusammen, das zu noch unbekanntem Zeitpunkt bei dem britischen Bass-Music-Pop-Superlabel Hyperdub erscheinen wird. Live ist Lanzas Set in Duo-Besetzung mit jeder Menge Synthesizer und anderen Klangkasteln wenig überraschend bezaubernd.
David Višnjić
Später baut die ebenfalls in Kanada ansässige Musikerin Ouri ihre housigen Popsongs, die sie im Studio mit Synthesizern, Steel-Gitarre, Cello und allerlei Effektpedalen einspielt, in einem charmanten Liveset nach. Ihre Tracks erinnern stellenweise an den sinnlichen R’n‘B von FKA Twigs, und arbeiten in anderen Momenten mehr dem Dancefloor zu. Der gebuchte Slot für Ouri zur Party-Peaktime um 2.00 Uhr früh erweist sich allerdings als nicht ideal. Die Leute wollen ausflippen.
David Višnjić
Dies geschieht direkt danach bei dem Set des südafrikanischen Superstars DJ Lag. Aus der Stadt Durban exportiert DJ Lag seit ein paar Jahren die staubtrockenen, extrem mitreißenden Drumrolls des Musikstils Gqom in die Clubwelt hinaus. Wahnwitzige, polyrhythmische Kicks rasen im Gqom unter geisterhaften Zulu-Chants, die jüngst sogar Pop-Queen Beyoncé so begeisterten, dass sie DJ Lag auf ihrem letzten Album „The Lion King: The Gift“ für die Nummer „My Power“ mit an Bord holte. Der Track ist eine Offenbarung; Lag spielt ihn in dieser Nacht natürlich auch für den jubelnden, wuselnden Dancefloor.
Stefan Lozar
Oben im Tunnel interpretieren einstweilen die DJs Therese Terror und Bambounou sowie Fingers of God mit einem Liveset Techno als herrlich ungestümes Fest. Die Luft ist auf diesem Floor wie immer zum Schneiden, was die Erfahrung beim Tanzen in der Berghöhle umso körperlicher macht. Wenn die Welt schon untergeht, dann soll sie das bitte nicht sang- und klanglos tun, hierfür sorgt das Elevate auch dieses Jahr wieder konsequent.
David Višnjić
Publiziert am 07.03.2020