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CC0 by Pixabay

In „Power“ inszeniert Autorin Verena Güntner den Wald und das Dorf als Schreckensorte

In ihrem zweiten Roman „Power“ skizziert Verena Güntner den Mikrokosmos eines Dorfes, benennt Gewalt und Einsamkeit und zeigt auf, wie schnell sich Radikalisierung innerhalb eines Systems ausbreiten kann.

von Michaela Pichler

Porträt Verena Güntner

Stefan Klueter/DuMont

Verena Güntner ist Schauspielerin und Schriftstellerin. 2013 gewann sie beim Ingeborg-Bachmann-Preis den Kelag Sonderpreis.

Diese Woche hätte eigentlich die Leipziger Buchmesse stattfinden sollen. Aber die ist aufgrund der aktuellen Corona-Lage abgesagt worden. Der Leipziger Buchpreis wurde heute aber trotzdem vergeben, nämlich erstmals live im deutschen Radio. Den begehrten Belletristik-Preis hat Autor Lutz Seiler mit seinem Werk „Stern 11“ gewonnen. Auch der Roman „Power“ von Verena Güntner war nominiert. In ihrem zweiten Roman erzählt die Autorin und Schauspielerin aus Ulm von einem kleinen Alltagsdrama, das sich zu einer gewaltvollen Tragödie in einem Dorf zuspitzt. Ein Hund verschwindet im Wald und ein ganzes Dorf droht deshalb, den Verstand zu verlieren. So könnte man den Plot von „Power“ kurz und knapp herunterbrechen, doch was Verena Güntner in ihrem Buch erzählt, ist in seiner kleinen Katastrophe viel feingliedriger.

„Sieben Wochen lang hat Kerze Power gesucht. Am Ende hat sie ihn gefunden. Natürlich war er tot und von Maden zerfressen. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie ihn gefunden und zurückgebracht hat. Denn das ist das, was Kerze am besten kann: Versprechen halten. Jeder im Dorf weiß das, und deshalb kommen die Leute zu ihr. Weil sie Kerze ist. Ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt“.

Das elfjährige Mädchen Kerze ist ein sehr ungewöhnlicher Charakter. Sie ist rechtschaffen aber schroff, verabscheut Mitleid, hilft ihren Mitmenschen, ist aber nicht wirklich zu Empathie fähig. Sie ist keine klassische Heldin, aber eine Anti-Heldin ist sie auch nicht: Denn Kerze hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Hund von der älteren Frau Hitschke wieder zu finden. Und das um jeden Preis. In kürzester Zeit wollen auch alle anderen Kinder im Dorf bei der Suche mithelfen. Kerze inszeniert sich immer mehr zur Anführerin, die auch vor tyrannischen Mitteln nicht zurückschreckt. Wer von den Kindern aus der Reihe tanzt, wird bestraft und muss zum Beispiel Tannenzapfen fressen. Und „Fressen“ ist dabei wörtlich zu nehmen - die Kinder verwandeln sich bei ihrer Suche immer mehr zu Hunden. Sie bellen, sie fressen vom Boden und beißen ihre Eltern. Kerze hat ein Rudel erschaffen, das eine ganz eigene Gruppendynamik á la „Herr der Fliegen“ entwickelt.

„Stöckchengeschwader im Wald. Henne, der am lautesten bellt, das Gesicht ins Laub gräbt, auf allen vieren durch die Büsche kriecht. Becca, die stets hinter Kerzes gebieterischem Arm zurückbleibt, deren Stimme beim Gebell leiser ist als die der anderen. Und Marri, die hechelt, bis ihr die Tränen kommen. Der erste Tag als Rudel, schnell geht er vorbei.“

Cover von "Power"

DuMont Buchverlag

Der Roman „Power“ von Verena Güntner ist im Dumont-Verlag erschienen.

Das Gegenteil von Safe Space

Schauplätze im Roman sind das namenlose 200-seelen Dorf und der Wald. Die Autorin skizziert eine kleine Ortschaft, die geplagt ist von Landflucht, dessen Häuser kein sicheres Zuhause bieten, sondern von Einsamkeit und Gewalt heimgesucht werden. Währenddessen läuft in den Traktoren Freiwild, das Bier wird auch schon Mittags aufgemacht. Aber auch der Wald ist für die Erwachsenen - oder „die Großen“, wie sie im Roman genannt werden - ein unheimlicher Ort. Selbst als die eigenen Kinder tage-und wochenlang darin verschwinden, trauen sie sich nicht ganz hinein in das dunkle Unbekannte. Nur die Kinder haben sich die Natur zu eigen gemacht, angeführt von Kerze: „Im Wald fällt Nachmittagssonnenlicht zwischen Baumkronen hindurch auf Laub und Moos am Boden. Kerze kennt die Wege, ihr ganzes Leben hat sie im Wald verbracht. Für sie ist der Wald kein Ungeheuer, der Wald ist ihr Freund.“ Die Inszenierung des Waldes erinnert an Serien wie die deutsche Netflix-Produktion „Dark“ oder die französische Produktion „The Returned“ (2012). Es ist ein dunkler und mächtiger Ort, der ganz anderen Regeln unterworfen ist, die „die Großen“ in „Power“ nicht mehr verstehen oder an die sie sich nicht mehr erinnern können.

Psychodrama getarnt als Jugendroman

Was als Kindergeschichte beginnt, spannt sich in Verena Güntners Erzählung immer mehr zum ungewöhnlichen Psycho-Drama. Die Charaktere skizziert die Autorin schroff und brüchig. Sie lösen beim Lesen keine Sympathien aus, eher Mitleid. In klarer und packender Sprache stellt der Roman „Power“ die Frage: Was braucht es, bis ein System zusammenbricht, bis sich eine Gruppe an Menschen radikalisiert und jegliche Moralvorstellungen über Bord wirft? In Verena Güntners Roman braucht es sehr wenig: Es reicht, wenn ein kleiner Schoßhund verloren geht.

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