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Bild aus dem Film "Waves"

Universal Pictures/A24

FILM

Die Heimkino-Tagebücher: Familien im Ausnahmezustand

Sein berührendes Meisterwerk „Waves“ wurde bei uns auf unbestimmt verschoben. Aber US-Regisseur Trey Edward Shults hat schon zuvor eine beklemmende Isolationsstudie gedreht.

Von Christian Fuchs

Vor einer Woche hat es noch so ausgesehen, als ob die FM4-Filmberichterstattung auch in Zeiten der Corona-Krise weiterlaufen würde. Sicher, einige Starttermine wackelten. Und die Kinos schalteten bereits auf Ausnahmestatus, 99 Besucher pro Vorstellung sollten sich auf die Vorführsäle verteilen.

Trotzdem kündigte sich für mich eine besonders intensive Arbeitswoche an. Ein neues Alterwerk von Clint Eastwood („Richard Jewell“, recht passabel) sollte ich ebenso besprechen wie das Sequel zum perfide-perfekt ins Hier und Heute passenden Endzeitthriller „A Quiet Place“.

Dann überschlugen sich aber wieder einmal die Ereignisse, wie so oft dieser Tage, und die völlige Schließung der Lichtspieltheater kündigte sich an. Während bei uns intern noch überlegt wurde, was mit der kommenden Berichterstattung passiert, verschob der zuständige Verleih den Horror-Blockbuster „A Quiet Place 2“ bereits auf unbestimmt. Inklusive Embargo für alle Rezensenten, ich darf euch also nicht einmal andeuten, ob die Geschichte von Emily Blunt & Co. gewohnt spannend weitergeht.

Filmstill aus Quiet Place 2

Constantin

„A Quiet Place 2“

Leuchtend-bunte Hoffnungsschimmer

Während wir euch also in nächster Zukunft im Radio und hier mit Heimkinotipps aus der Streaming-, BluRay- und DVD-Welt versorgen, gibt es auch einen neuen Film, dessen abgesagter Start mich besonders schmerzlich trifft. „Waves“ ist das dritte Werk des jungen US-Regisseurs Trey Edward Shults und es ist meisterlich geworden.

Der tief berührende Film - bravourös gespielt, in knallige Farben getaucht, von grandiosen Indiepop- und HipHop-Tracks untermalt - erzählt von einer afroamerikanischen Mittelklasse-Familie, die von Schicksalsschlägen zermalmt wird. Beinahe zumindest. Denn „Waves“, der mit einer besonders ungewöhnlichen Erzählstruktur überrascht, dreht sich vor allem auch um das Aufbäumen. Den verzweifelten Kampf gegen erdrückende Umstände. „Waves“ ist ein Krisenfilm par excellence: Ohne kitschig-aufgesetztes Happy End. Aber durchaus mit (leuchtend-bunten) Hoffungsschimmern.

Dass sich ausnahmsweise niemand beschwerte, obwohl hier ein Weißbrot-Regisseur ein afroamerikanisches Drama präsentiert, hat einerseits wahrscheinlich mit der gefühlten Authentizität zu tun, die „Waves“ in jedem Moment verstrahlt. Auf der anderen Seite erwischt einen die emotionale Wucht des Films abseits aller racial discussions. Man darf hoffen, dass dieses Familienepos, produziert von der Edel-Filmfabrik A24 und mit einem Score von Trent Reznor and Atticus Ross ausgestattet, irgendwann auch bei uns einmal Zuseher*innen findet.

Bild aus dem Film "Waves"

Universal Pictures/A24

„Waves“

Paranoia-Kammerspiel in der Waldhütte

Um euch aber nicht bloß Lust auf einen Film zu machen, dessen Start gerade gecancelt wurde: Mitreißend, allerdings auf ganz andere Weise, ist auch der Vorgängerstreifen von Trey Edward Shults, auf diversen Streamingkanälen erhältlich. „It Comes at Night“ ist in gewisser Weise die radikale Version von „A Quiet Place“.

Dabei ist es natürlich eine Frage der Befindlichkeit, ob man sich gerade jetzt die Story einer Familie antut, die sich nach dem Ausbruch einer zunächst undefinierten Krankheit isoliert in einer Waldhütte verschanzt. Ich weiß aber aus dem cinephilen Freundeskreis - und von mir selbst -, dass die filmische Konfrontation mit Extremsituationen auch eine kathartische Wirkung haben kann.

In „It Comes At Night“ geht es jedenfalls nicht um vernünftiges social distancing. Kompromisslos, karg und ohne Rücksicht auf die Dramaturgie des Mainstreamkinos zu nehmen inszeniert Shults ein stockdunkles Paranoia-Kammerspiel. Im wahrsten Sinn des Wortes. Umso beängstigender sind die Bedrohungssituationen, denen die Familie immer wieder ausgesetzt ist.

Filmstill aus "It Comes at Night"

A24

„It Comes At Night“

Irgendwann wird klar, dass „It Comes at Night“ weit entfernt von Horrorklischees und viel mehr als ein apokalyptischer „Home Invasion“ Thriller ist. Der mit Joel Edgerton („The Gift“) und Riley Keough („The Lodge“) glänzend besetzte Film entpuppt sich als universelle Isolations-Studie mit deutlich soziopolitischem Unterton. Was man schon bei manischen Supermarkt-Hamsterkäufen erahnt und aus Flüchtlingskrisen kennt -, dass in Ausnahmesituationen das Misstrauen mancher Menschen faschistoide Züge annimmt – ist bei Trey Edward Shults letztlich das zentrale Thema.

Nach dem dunklen Beginn dieser Kolumne sei dringend angemerkt: Die nächste Ausgabe der Heimkino-Tagebücher wird sich dem puren Eskapismus, der reinen Infantilität, der geballten wunderbaren Lächerlichkeit widmen. Bis dahin: Stay At Home, stay safe.

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