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Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Laura Ashley ist tot - was kommt jetzt?

Ein Versuch weiterzudenken, geschrieben vor der Ankündigung eines „Wartime Budget“ zum Abfangen der wirtschaftlichen Konsequenzen der Corona-Krise in Großbritannien. Wir stehen vor der größten wirtschaftspolitischen Kehrtwendung seit Margaret Thatchers Zeiten.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Na, sitzen alle Glücklichen, die von zu Hause aus arbeiten können, eh auch gemütlich in ihrem Home Office? In ihrem hauseigenen Innenministerium also, von dem aus man per sozialen Medien Verhaltensratschläge an die Außenwelt weitergeben kann?* Schließlich haben die anderen E-Mails, die uns die Arbeit an den Schreibtisch spülen, schon merklich nachgelassen, oder?

*Ich hab’s mir ja gleich gedacht, dass ihr euch den Ausdruck „Home Office“ irgendwo in den USA eingetreten habt. Immer wenn man denkt, man hätte was astrein Denglisches gefunden, findet man Amerikaner*innen, die genauso perverse Sachen sagen wie ihr.

Ich für meinen Teil habe ja seit über 20 Jahren meinen Hauptarbeitsplatz zu Hause, und während es in meinem Büro/Studio bzw. Platten- und Gitarrenlager immer aussieht wie im reinsten Saustall – denn wer räumt schon hinter sich auf, nachdem sie/er zwischen acht Uhr abends und drei Uhr früh nach getaner Arbeit endlich den Laptop zugeklappt hat? –, trage ich bei der Arbeit tatsächlich immer Sakkos (akzeptable Hosen und Schuhe natürlich auch!), schon allein zur Wahrung eines gewissen Selbstrespekts.

Sakko-Selfie

Robert Rotifer

„Home Office“ Wear heute

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ich dachte also, ich wäre ziemlich gut gerüstet für unser neues Leben. Aber es stellt sich heraus, dass die Platten (fast) sämtlicher Künstler*innen, die ich in den nächsten Tagen notfalls per Telefon interviewen hätte sollen, fürs Erste ein paar Monate verschoben wurden. Eh verständlich, nicht jede*r ist so deppert wie die Stereophonics.

Und auf eine gar nicht so gewisse Art ist das, was hier mit mir passiert, wohl eine mikrokosmische Version dessen, was als Gesellschaft auf uns zukommt.

Als wir uns das letzte Mal hier lasen, ging’s ja noch darum, wie Großbritannien auf den medizinischen Notfall reagiert. Das war am Samstag.

Inzwischen hat die britische Regierung das Luftschloss „Herdenimmunität“ bereits aufgegeben und durch das Projekt Infektionsverhinderung ersetzt, allerdings immer noch ohne stringente, zwingende Maßnahmen.

Das dauert seine Zeit, wirklich.

Und es erzürnt jetzt schon die Gastronomie-, Konzert-, Kino- und Theater-Branche, zumal niemand allfällige Versicherungshaftungen geltend machen kann, solange es keine behördliche Vorschrift zum Zusperren gibt.

Aber selbst wenn Boris Johnson durch sein Herumlavieren die Versicherungen und mit ihnen die Banken, den Finanzmarkt und die Pensionsfonds vor das Wohlergehen aller anderen Branchen stellen versuchte, waren die Kegel rundum natürlich schon längst im Fallen.

Die Fluglinien krachen, die Reisebüros sowieso, im Fernsehen werben sie surrealerweise für Dinge, die’s gar nicht mehr gibt (Urlaub in der Türkei gefällig? Lust auf Erwerb eines neuen Eigenheims?), und heute erklärte sich ausgerechnet der alte Retro-Kitschmodekonzern Laura Ashley symbolträchtig zum ersten, aber sicher nicht letzten großen britischen Wirtschaftsopfer der Corona-Krise.

Plakat in der Londoner Undeground: "Europe is open"

Robert Rotifer

Bild aus einer vergangenen Ära letzte Woche

Bevor das Gesundheitssystem noch die volle Wirkung der Seuche zu spüren bekommt (die Zahl der Toten stieg heute auf 71), beginnen sich also bereits deren wirtschaftliche Konsequenzen abzuzeichnen.

Und während man aus Skandinavien oder Frankreich bereits von großangelegten staatlichen Finanzhilfemaßnahmen für Wirtschaft und Allgemeinheit hört, beginnt sich auch hier wenigstens der Diskurs darüber entscheidend zu wenden.

Heute Morgen hörte ich, wie Lord Jim O’Neill, Handelsstaatssekretär der zweiten Regierung Cameron (zurückgetreten unter Theresa May), die BBC-Moderatorin Martha Kearney mit der dringenden Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen verblüffte.

Selbst der neben ihm zugeschaltene, bisherige Raubtier-Kapitalist John Caudwell, Betreiber der Handy-Diskonter-Kette phones4u, wollte dem nicht widersprechen.

So wie man einst die Banken gerettet habe, brauche es nun, sagte O’Neill, eine „people’s QE“. Und er meinte damit keine volksnahe Queen Elizabeth, sondern ein Quantitative Easing, so der Euphemismus für die nach der Bankenkrise 2008 der Londoner Finanzindustrie verabreichten Geldspritzen, bloß diesmal für das Volk.

Und zwar nicht in Form von Miet- oder Hypotheken-Ferien, sondern Cash, direkt aufs Konto. Damit die vom erzwungenen Müßiggang betroffenen Arbeitskräfte, nicht zuletzt all die un- bis halbfreiwillig Selbständigen der sogenannten „gig economy“ sich weiter über Wasser halten können.

Tatsächlich wird das – nebst staatlicher Rettung in Schwierigkeiten geratener Unternehmen –, wie ich in meinem letzten Blog ja schon anklingen ließ, nicht nur in Großbritannien am Ende wohl die einzige durchführbare Lösung sein. Die einzige Möglichkeit, einen rapiden Zusammenbruch der Gesellschaft, großes Elend und den Verlust eines relativen sozialen Friedens zu vermeiden.

Ich hoffe übrigens, dass dieser Teil meines Blogs bei seinem Erscheinen schon out of date sein wird, denn noch Dienstagnachmittag soll der Finanzminister Rishi Sunak seinen Vorschlag eines Hunderte Milliarden Pfund schweren Rettungspakets verkünden.

Doch selbst wenn Sunak noch nicht so weit gehen sollte: Plötzlich scheint es denkbar, ja geradezu unausweichlich, dass ausgerechnet eine neoliberal eingestellte, konservative Regierung zu einem nicht einmal von Jeremy Corbyn erträumten Maß die De-facto-Verstaatlichung des britischen Wirtschaftslebens durchführen könnte.

Das wäre die größte wirtschaftspolitische Kehrtwende seit Margaret Thatchers Zeiten. Natürlich nur als Übergangslösung, werden viele sagen, aber tatsächlich weiß niemand, wie, wann und ob der Weg wieder zur Normalität der Prä-Corona-Ära zurückführen könnte.

Und wenn ich hier am Samstag noch launig von „einer Art Interims-Sozialismus“ schrieb, dann scheint mir nüchtern betrachtet eine weit sinistrere, autoritäre Version dieser Zukunft wahrscheinlicher - zumal in den Händen der Regierung Johnson, die bereits den Gebrauch von Überwachungs-Apps für Infizierte nach südkoreanischem Vorbild ventiliert (mit der Beschaffung von Beatmungsgeräten ist man weniger schnell).

Ich bezweifle ja gar nicht, dass einige von euch mich nun für wahnsinnig erklären werden. Das halt ich aus, ihr könnt mich ja auch nicht abholen, denn zwischen Wien und London geht seit heute nichts mehr, und Heathrow und Gatwick beraten gerade ernsthaft, ob sie überhaupt zusperren sollen.

In der Tat lässt die nachlassende Arbeitsfrequenz, gepaart mit Schlaflosigkeit meine Gedanken weiter streifen als sonst, und es ist wohl gar nicht einmal so originell, sich zu fragen, was sich noch alles verändern wird, sobald unsere wirtschaftliche Welt hier einmal dermaßen auf den Kopf gestellt wurde.

Schließlich lebt Großbritannien so wie die EU und die USA seit der Periode der Globalisierung und Deindustrialisierung von seiner Unersättlichkeit als Konsument*innen-Nation. Man verkauft einander Dinge, die andere herstellen.

Ob sich jene asiatischen Länder, die wir als Produktionsort der Befriedigung all unserer materiellen Wünsche missbrauchen, künftig von einem schwer verschuldeten Westen mit stark reduzierter Kaufkraft noch bereitwillig die Weltpolitik diktieren lassen werden? Ein Pochen in meinem linken großen Zeh sagt: Eher nicht.

Falls alles am Ende doch nicht so wild kommt, lach ich gern mit, wenn ihr mir in ein paar Jahren diesen Blog vorlest. Aber so wie die Dinge sich heute von meinem Schreibtisch-Saustall aus präsentieren, könnte das Jahr 2020 das Ende der postkolonialen Nachkriegsordnung markieren.

Sicher, da sollten sich noch genug Leute aus dem arabischen Raum und Fernost finden lassen, die alles tun werden, um ihre Investitionen in den Londoner Immobilien- und Finanzmarkt zu stützen, und die Londoner City mit ihrer vernetzten Struktur von Spekulant*innen, internationalen Banken-Dependencen und ausgefuchsten Anwaltskanzleien wird immer noch eine Art von City sein.

Aber selbst der Chef des voriges Jahrzehnt von Schatzkanzler George Osborne als Wachhund für verantwortungsvolle Staatsausgaben eingeführten Office for Budget Responsibility (OBR) Robert Chote forderte heute bereits das Äquivalent eines Kriegsbudgets. Und man sollte nicht vergessen, dass es schon im Zweiten Weltkrieg nur die amerikanische Luftbrücke über den Atlantik war, die Großbritannien vor dem Verhungern rettete (Sein Geld aus dem Marshall-Plan steckte Britannien damals fatalerweise statt in den Aufbau seiner Industrie lieber in die Wiederaufrüstung zur militärischen Weltmacht).

Unterstützung dieser Art würde heute wohl nicht aus dem Westen kommen, aber man wird um sie betteln müssen.

Diese Behauptung lass ich jetzt einmal hier so stehen, wir befinden uns schließlich erst in der ersten Woche dieser Krise.

Ich hör mir einstweilen einmal an, was Boris Johnson und Rishi Sunak gerade zu sagen haben.

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