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Gender Spectrum Collection / CC BY-NC-ND 4.0

Blumenaus 20er-Journal

Social Distancing ist ein Schwachsinn

Sprachlich. Weil es das genaue Gegenteil dessen ist, was gerade unternommen wird: körperliche, räumliche Distanz, also physical distancing. Die soziale Nähe, das Miteinander hingegen ist gerade wichtiger denn je. Warum bedeutet also das Schlagwort der Stunde sein exaktes Gegenteil?

Von Martin Blumenau

Manchmal taucht ein Begriff auf, der alles dermaßen auf den Punkt bringt, dass Medien und Öffentlichkeit ihn mit großer Begeisterung übernehmen. Und manchmal ist das eigentlich ein ordentlicher Griff ins Klo - aber dann ist es zu spät, um das völlig falsche Schlagwort wieder einzufangen.

Social Distancing meint das Wahren von Abstand, ganz körperlich, physisch: ein Meter, oder besser eineinhalb. Nun ist der Raum zwischen zwei Menschen alles mögliche, er kann auch sozial sein, aber auf die soziale Distanz setzt dieser Begriff bzw. dessen Umsetzungs-Praxis überhaupt nicht - die bleibt gewahrt, ja, sie wird verstärkt. Zum einen durch die erhöhte Umsicht und Sorgsamkeit, die Rücksichtnahme auf die Anderen, zum zweiten durch damit einhergehenden erhöhte soziale Kontaktnahme via digitale Medien.

Der soziale Umgang, das Mit- und Füreinander ist das Ding der Stunde. Von sozialer Distanz ist keine Rede - der direkte Schutz vor dem Virus ist der rein körperliche Abstand.

Richtig wäre also die Verwendung von Begriffen wie „physical distancing“ oder „räumliche Distanzierung“. Und dass die soziale Distanz etwas ganz anderes beschriebt, sollte eigentlich allen klar sein, die ganz kurz drüber nachdenken.

Im englischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Social Distancing werden als historische Referenz die Maßnahmen anläßlich der Polio-Epidemie von 1916 in New York erwähnt. Damals, in einem rein analogen Zeitalter, war der Begriff der sozialen Distanz wahrscheinlich noch korrekt eingesetzt; damals bedeuteten Quarantäne, Ausgangssperre etc. tatsächlich noch einen Cut des Sozial-Lebens, ein Runterfahren der gesellschaftlichen Interaktionen (wo es wohl abseits von Radio keine gemeinsamen Anker gab). Vielleicht hat sich der damals richtige Begriff einfach unüberlegt in die digitale Neuzeit geschlichen, wo es eben genau keine soziale Distanziertheit gibt, sondern eine ums vielfache erhöhte Interaktions-Frequenz, das aus dem massiv gesteigerten Interesse am Leben der anderen, von denen man gerade räumlich getrennt ist, gespeist wird.

Ist nur so eine Vermutung - vielleicht hat der fehlbesetzte Begriff auch andere Gründe. Lächerlich bleibt er allemal, bei jeder erneuten Verwendung.

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