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Mads Flintholm

Weg frei für „Neue Reisende“!

Allzu oft spricht man von „neuen Stimmen“ in der Literatur. Für die Dänin Tine Høeg passt diese Bezeichnung – mehr noch: Eine beeindruckende, junge neue Stimme. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass Klopapierkauf seit der CoV-Krise anders verstanden wird.

Von Zita Bereuter

Es ist verrückt. Die weltweite Situation sowieso. Verrückt ist das Leben der Ich-Erzählerin. Verrückt ist aber auch, wie sich das Lesen in Zeiten des Corona-Virus verändert hat. In „Neue Reisende“ von Tine Høeg erfährt man das mehrfach.

Textbeispiel

Droschl

Das ist aber nicht das Erste, das auffällt, wenn man dieses Buch in die Hand nimmt. Vielmehr verwundert das Optische: Der lose gesetzte Text.
Ein * Sternchen markiert das neue Kapitel, die Zeilen beginnen mit Kleinbuchstaben, dazwischen ein großer Zeilenabstand, keine Interpunktion – das erinnert mehr an Gedichte. Manche Seiten haben gar nur wenige Zeilen. Die knappste nur ein Wort.
„I choose very few words” erklärt Tine Høeg “if you choose the right few words, an entire world can come to life.” Das erinnert an Mark Twain´s Zitat “Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“
Tine Høeg verwendet exakt die richtigen Worte und erschafft eine vollständige Welt, in der Begehren und Leidenschaft gegen Überforderung und Zweifel kämpfen.

Leidenschaft

Die namenlose Ich-Erzählerin ist Junglehrerin. An ihrem ersten Schultag lernt sie im Pendlerzug zufällig einen zehn Jahre älteren verheirateten Mann kennen. Eine leidenschaftliche Affäre beginnt.
„das erste Mal dass ich dich nackt sehe:
Zugtoilette
irgendwo zwischen Kopenhagen und Næstved
das ist für mich ganz neu
jemanden so haben zu wollen“

In kurzen Momentaufnahmen beschreibt Tine Høeg die Affäre und das Leben der Ich-Erzählerin. Minimalistisch, ohne Punkt und Komma. Diese knappen Sätze geben die unmittelbare Wahrnehmung der Ich-Erzählerin wieder.
So beobachtet man, so nimmt man wahr, so denkt man. Bruchstückhaft, selektiv und auf das Wesentliche konzentriert. Sie habe nicht lange an diesem Stil gearbeitet oder den gesucht, sondern ziemlich gleich so geschrieben, erklärt Tine Høeg.

„das siebte Mal dass ich dich nackt sehe
meine Küche
Vormittag
welch merkwürdiges Licht
als du gegangen bist
und ein Duft von etwas Süßem
aus der Tüte auf dem Tisch
du hattest Kuchen mitgebracht
einen Schwanz einen Kuchen ein Gehirn ein Herz
hattest du mitgebracht
und den Kuchen zurückgelassen“

Zurück zur Ich-Erzählerin: Die fühlt sich ihrer Lehrerinnenrolle nicht gewachsen, sieht sich den Schüler*innen näher als den Lehrer*innen.
„das Beste am Erwachsensein ist
dass ich nicht mitmachen muss“

Porträtbild Tina Hoeg

Petra Kleis

Tine Høeg musste als Dänischlehrerin pendeln und hat sich im Zug die Geschichte ausgedacht. Ihre Stelle als Lehrerin hast sie übrigens aufgegeben und schreibt jetzt nur mehr.

Überforderung

Diese Situation kennt Tine Høeg aus ihrer eigenen Biographie: wie die Protagonistin war sie Dänischlehrerin an einer Oberstufe und hat als Junglehrerin erst in ihre Rolle finden müssen. Wenn sie vor der Klasse stand, kam sie sich häufig vor, als würde sie sich von außen sehen: sie sieht also sich, wie sie vor der Klasse steht, unterrichtet und das alles merkwürdig findet. Und sie stellt sich vor, was man von einer Lehrerin erwartet und versucht das zu erfüllen. Tatsächlich aber kam sie mit der Rolle nicht zurecht, erinnert sie sich.
Das sei ein Problem, das viele, gerade junge Menschen, in ihrem Beruf haben. Sie glauben, dass es gewisse Erwartungen für die jeweiligen Rollen gibt und versuchen, diesen gerecht zu werden. Auch wenn sie sich verbiegen müssen.
Mit ihrem Roman wollte sie diesem Problem eine Projektionsfläche bieten.

Die Ich-Erzählerin versucht also als Lehrerin Souveränität zu gewinnen, während sie diese in der Affäre verliert. Mehr und mehr imaginiert sie sich in die Welt des verheirateten Mannes und dessen Familie.
„ich versuche
nicht an den nackten Körper deiner Frau zu denken“

In der Schule lehrt sie die Schüler*innen Grauen und Schrecken in Film und Literatur. Tatsächlich aber gibt es das auch in ihrem Leben – selbst wenn der Mann sich für sie entscheidet kann das kein Happy End sein - in dieser Situation wird immer jemand leiden. Entweder sie oder die Ehefrau und die Tochter.

„Each word is heavy“

Tine Høeg erzählt dies mitunter poetisch, manches erinnert an Haikus
„deine Hand
in einem Viereck aus Licht
das die Sonne durch das Zugfenster wirft“

Tina Hoeg mit neuem Buch

Mads Flintholm

Tine Høeg: Neue Reisende,
Aus dem Dänischen übersetzt von Gerd Weinreich, Droschl Verlag

ausgezeichnet als bester dänischer Debütroman

Leseprobe

Sie habe früher auch gern Gedichte geschrieben, erklärt Tine Høeg. Ihre Vorliebe für Lyrik erkennt man auch optisch.
Der viele Weißraum zwischen den Zeilen lässt Platz für weitere Gedanken. Die Lesenden sollen sich die Szenen selbst ausdenken, erklärt Tine Høeg. Denn auch wenn sie wenige Wörter benutzt, ist der Text doch aufgeladen. „Each word is heavy“. Und jede Zeile braucht Platz. Diese Zeilenumbrüche und der Weißraum sei auch eine Art, um einen Rhythmus in den Text zu bringen. Und - „The reader is part of the story.“

Tine Høegs Stil vermengt also Prosa und Lyrik – und zu ihrer großen Überraschung auch Drama. 2018 wurde „Neue Reisende“ im Königlichen Dänischen Theater in Kopenhagen aufgeführt – dabei wurde fast der Originaltext verwendet. Diese einfache Adaption habe sie verwundert, meint Tine Høeg.

Lesen in der CoV-Krise

Verwundert zeigt sie sich auch über das neue Leseverhalten in der CoV-Krise. An mehreren Stellen zuckt man kurz. Die Protagonistin fühlt leichtes Fieber oder sinniert über Ansteckungen:
„du küsst mich obwohl ich erkältet bin
meine Bakterien laufen hinüber zu dir
und weiter zu Evy und Maria
eine Woche später seid ihr alle drei erkältet“

An einer anderen Stelle kauft die Ich-Erzählerin Klopapier. Eigentlich geht es um eine unangenehme Situation – die Erzählerin geht in Jogginghose, nicht hergerichtet schnell mal Einkaufen und trifft dann zufällig ausgerechnet ihre Affäre – noch dazu mit Frau und Kind.

„ich bin mit Brille und Turnschuhen unterwegs
ich war eben drin und habe Toilettenpapier gekauft
das ich gerade an meinen Fahrradlenker hängen will

ihr kommt näher“

Die Demütigung und Scham der Ich-Erzählerin wollte Tine Høeg überhöht darstellen. Klopapier zu kaufen sei etwas Intimes und Privates. Seit der CoV-Krise sei Toilettenpapier ein Symbol geworden für Angst, Isolation und Gier.
„It’s interesting how these things have transformed. We will never be able to look at toiletpaper the same way again.”

Übrigens - viele Buchhandlungen liefern auch gern Bücher:
www.buecher.at

Das Leben von Tine Høeg hat sich bis jetzt seit dem CoV-Ausbruch wenig verändert. Bis vor kurzem hat sie an ihrem zweiten Roman geschrieben – daheim – in völliger Isolation. Jetzt aber komme sie aus dieser Isolation in eine neue Isolation. Physisch habe sich daher kaum was geändert – mental allerdings sehr viel. Sie sei sehr froh, dass sie den zweiten Roman gerade noch vor dem CoV-Ausbruch in Europa beendet habe, denn jetzt könne sie sich nicht mehr gut konzentrieren, weil sie ständig an den Virus denken müsse. Wenn sie zum Spazieren raus geht, hat sie das Gefühl, jede Person, die sie trifft, sei ein potentieller Feind. Das sei wie ein Computerspiel, wo man es vermeiden müsse, jemanden zu treffen. Es sei gut und wichtig, dass man jetzt darüber rede, wie man mit den eigenen Veränderungen zurecht kommt.

Lesen kann jedenfalls auch helfen.
Zumindest in eine andere Welt führen.
„Neue Reisende“ von Tine Høeg führt mit bemerkenswertem Stil in eine eigene Welt. Hier gilt das: eine beeindruckende neue Stimme!

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