FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Nine Inch Nails

Nine Inch Nails

„Together“ & „Locusts“: Zwei neue Alben der Nine Inch Nails

Schöne, traurige aber auch hoffnungsvolle Lieder gibt es auf gleich zwei neuen Überraschungsreleases der Nine Inch Nails zu finden.

Von Christoph Sepin

Es war alles nur eine Frage der Zeit, das wusste man als Fan der Nine Inch Nails irgendwie seit Wochen. In seltsamen Zeiten der Unruhe, das haben Nine Inch Nerds gelernt, gibt es oft eine musikalische Reaktion von Trent Reznor, die der auch mit der Welt teilen möchte - und das kann schon mal ohne große Ankündigung passieren.

Vor allem in den letzten Tagen, während immer mehr Musiker*innen isolationsgebunden neue Musik machen, Livestreams veranstalten und kreative Konzepte aus ihren eigenen Wohnzimmern in die Welt bringen, sollte man sich auf den Nine Inch Nails-Gründer verlassen können, als Pionier der Internet-Musik-Distribution nicht nur zuzusehen, sondern auch aktiv zu partizipieren. So ist es nicht unbedingt überraschend, dass Trent Reznor ganz einfach mit einem simplen Tweet neue Musik ins Internet schickte. Genausowenig überraschend auch, dass es sich dabei um ein neues Kapitel seiner „Ghosts“-Reihe handelt.

Aber wo befinden wir uns jetzt überhaupt in der Biografie der Nine Inch Nails mit „Ghosts V-VI“, mit den schönen Untertiteln „Together“ und „Locusts“? Das letzte Album der Band, das aus dem letzten Teil einer Trilogie herausgewachsen war, „Bad Witch“, erschien 2018 und war der Abschluss eines neuen kreativen Höhepunkts von Trent Reznor (und Atticus Ross, der mittlerweile zum fixen Mitglied der Nine Inch Nails erkoren wurde). Abgesehen von Soundtrackarbeiten (zuletzt etwa für die Serie „Watchmen“ oder den Pixar-Film „Soul“), war es Zeit für eine Zäsur der Nine Inch Nails - und für einen klugen Schritt in die Vergangenheit.

Ende 2007 nämlich, zu einer Zeit der Experimentierfreudigkeit der Musikwelt, in der es noch gar nicht so sicher schien, wie sich das mit dem Streamen und Musik herunterladen weiter entwickeln wird, setzte sich Reznor in sein schönes, dunkles Studio in Kalifornien und holte sich allerlei Wegbegleiter dazu: Langzeit-NIN-Mitglied Alessandro Cortini, King Crimsons Adrian Belew oder Dresden Dolls-Hälfte Brian Viglione.

Was damals aus dem, eigentlich von Reznor verhassten Konzept der „Jam Session“ entstand, waren zwei Stunden mal entspannte, mal düstere, mal melancholische Instrumentalmusik, entstanden über zehn Wochen Studioarbeit. „Ghosts I-IV“ erschien am 2. März 2008 in einer Creative Commons Lizenz, Samples und Songs daraus kann man noch heute in Filmen oder Popsongs hören. Zuletzt zum Beispiel in „Old Town Road“ von Lil Nas X.

Dass da irgendwann ein neuer Teil erscheinen würde, war klar. Zwölf Jahre später ist „Ghosts V-VI“ jetzt aber weniger ein Fragment aus Reznors kreativer Welt, sondern ein Spiegel für den Zeitgeist. Der Soundtrack zur Isolation ist hier entstanden, der Einsamkeit, aber auch des Zusammenhalts und einem neuen Verständnis von sozialem Leben. Wir mögen vielleicht räumlich getrennt sein, so vermitteln Instrumentierungen auf diesem Release, aber wir sind trotzdem irgendwie alle zusammen. „We’re In This Together Now“, schrie Reznor vor über zwanzig Jahren auf seinem Epos „The Fragile“ in sein Mikrofon. Zwei Jahrzehnte hat sich diese Zeile jetzt, anders als gedacht, bewahrheitet.

Damit hier auch gleich klar wird worum es geht, wird bereits zu Beginn die Botschaft ganz klar vermittelt: „Together“ lautet der Untertitel vom ersten Teil der beiden neuen Veröffentlichungen, während Lieder Namen wie „Out In The Open“, „Your Touch“ oder „Hope We Can Again“ tragen. Dass sich Trent Reznor mit einer gewissen Melodramatik mit der aktuellen Situation auseinandersetzen wird, war zu erwarten.

Hörer*innen der letzten „Ghosts“-Compilation der Nine Inch Nails oder der Soundtrackarbeiten von Trent Reznor und Atticus Ross, können sich leicht vorstellen, wie die Musik auf „Ghosts V-VI“ klingt. Weniger Songs als Stücke im klassischen Sinn tragen durch die Alben, lange ziehen Streichinstrumente vor sich hin, im Hintergrund kratzt und ächzt es mal aus den Maschinen, dann wiederholen sich Bässe, Synthesizerklänge und Störgeräusche.

Vieles, nicht alles davon, ist einladend, manche Momente spielen mit der Geduld, provozieren und reißen dann aber doch plötzlich ab, nur um sich in Wohlklang aufzulösen (der Übergang der Lieder „Apart“ und „Your Touch“ soll hier besonders hervorgehoben werden). Alles ist da wo es hingehört, wie in der alten Nine Inch Nails-Textzeile aus dem Jahr 2005: „And it’s all right where it belongs“.

Deutlicher und deutlich verstörender ist die B-Seite, „Ghosts VI“, ihrer Stimmung passend „Locusts“ betitelt. Hier sind die Instrumente provozierender, lauter und übersteuerter, erinnern an düstere Zeiten der Nine Inch Nails, Soundwände wie auf „The Fragile“ oder sogar den harten Störfaktoren von frühen Werken wie „Broken“.

Songtitel auf „Ghosts VI“ sind „The Worriment Waltz“, „Another Crashed Car“ oder „A Really Bad Night“. Kältere Momente und Emotionen herrschen hier vor und kulminieren im epischen, disruptiven und ärgerlichen 13-minütigen Track „Turn This Off Please“. Zwei Alben als Gegenpole also, wie von Reznor online beschrieben: „Ghosts V: Together is for when things seem like it might all be okay, and Ghosts VI: Locusts… well, you’ll figure it out.“

Die Welt ist eine graue, ist aber trotzdem schön. Das war schon immer ein Motiv, das sich durch Reznors Arbeiten getragen hat - und in den letzten Jahren, als auch das Nine Inch Nails-Zentrum selbst glücklicher wurde, immer mehr. Und all das ist hier eingefangen, beeinflusst durch Filmsoundtrackarbeiten der letzten Jahre, aber vor allem durch die Welt da draußen, die sich jetzt so fern, seltsam und unwirklich anfühlt.

Früher, im Jahr 2007, suchte sich Reznor seine Isolation im Heimstudio für seine ersten „Ghosts“-Kapitel noch selbst aus, jetzt hat er im Jahr 2020 eine der besten Antworten auf ein verändertes, ungewisses Universum. Und teilt eine zentrale Message auf der Website der Nine Inch Nails: „Remember, everyone is in this thing together and this too shall pass. Be smart and safe and take care of each other“.

Aktuell: