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Britische Royal Family

APA/AFP/Daniel LEAL-OLIVAS

ROBERT ROTIFER

Applaus statt Atemschutz

Prinzen und Premiers sind Prioritäten, 36-jährige Frauen aus Peckham weniger. Die Corona-Krise zeigt die britische Klassengesellschaft von ihrer tödlichen Seite.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Witze, die sich selber schreiben, schreiben sich selber, sie brauchen uns nicht. Das ist jetzt mein einziger Kommentar dazu, dass jener Mann, der sich brüstete, Corona-Patient*innen Hände geschüttelt zu haben, entgegen seiner eigenen Annahmen offenbar doch nicht Jesus ist.

Die Wahrheit ist, wenn unser Buffo-Churchill wirklich ernsthaft krank wird, dann übernimmt Außenminister Dominic Raab als stellvertretender Premier die Downing Street.

Genau der Mann, der erst vor zehn Tagen den Vogel abschoss, als er unfreiwillig makaber feststellte, die Corona-Virus-Krise könnte die Umstellung Britanniens auf seine neue Rolle nach dem vollzogenen Brexit beschleunigen.

Ja, ich weiß, das B-Wort ist euch schon abgegangen in meinen Blogs der letzten Zeit. Gestern erhob es wieder einmal seinen hässlichen Kopf (mein Hobby: Redewendungen wörtlich übersetzen, siehe „reared its ugly head“), als bekannt wurde, dass die britische Regierung eine Deadline zur Beteiligung an einer EU-weiten Aktion zum Ankauf von Beatmungsgeräten verpasst hatte.

Zuerst meinte dazu ein Regierungssprecher, Großbritannien sei eben kein EU-Mitglied mehr und unternehme lieber seine eigenen Anstrengungen (dazu gleich unten mehr).

Als die Interimschefin der Liberaldemokrat*innen Layla Moran nicht unschlüssig kommentierte, die Regierung stelle somit „den Brexit vor das Atmen“, änderte die Regierung schnell ihre Ausrede: Man habe eh teilnehmen wollen, aber leider die betreffende E-Mail der EU verpasst oder nie bekommen. Geht mir auch so, die wichtigsten Sachen landen immer im Junk-Folder.

Der die Regierung Johnson, insbesondere ihren Kaninchen-äugigen Gesundheitsminister Matt Hancock (jetzt auch Corona-positiv, wie ich während des Schreibens erfahre) nach Monaten des nonchalanten Eigenlobs völlig überraschend treffende Bedarf nach Beatmungsgeräten hat zwei große britische Leidenschaften zum Leben erweckt: Patriotismus und Inspiration (also known as arroganter Chauvinismus und Erst-Herumbrodeln-dann-Durchwursteln) vereinten sich im Auftrag an den großen Feind des Staubsacks James Dyson, schleunigst 10.000 Beatmungsgeräte zu entwickeln und herzustellen.

Jenen James Dyson also, der erst großspurig für den Brexit warb (eine Racheaktion gegenüber der EU, die seine Staubsauger als nicht energieeffizient kennzeichnen wollte) und dann postwendend seinen Firmensitz von Britannien nach Singapur verlegte.

All das wäre völlig nebensächlich und seine Hilfe hochwillkommen, wenn Dyson je Beatmungsgeräte hergestellt hätte und genau wüsste, was er tut. Hat er aber nicht. Aber ich wette, wenn einmal die Prototypen entworfen, hergestellt, geprüft und genehmigt sind, werden sie silber sein.

In der Zwischenzeit liest man von spezialisierten Herstellern, die sich bei der Regierung gemeldet, aber nie von ihr zurückgehört hätten, während ein weiteres Konsortium in medizinischer Hinsicht unerprobter Firmen, dem unter anderem Jaguar/Land Rover angehört, öffentliche Förderungen erhalten habe.

In einer internen Besprechung soll Boris Johnson diese Initiative als „Operation Last Gasp“ („Operation letzter Atemzug“) bezeichnet haben.

Kategorie Witz, der im Hals steckengeblieben ist.

Aber ganz ehrlich gesagt, hab ich längst die Lust daran verloren, mich über solch drollige Details zu amüsieren.

Blick in den Garten

Robert Rotifer

Ein gartenloser Wiener Freund hat neulich in einem sozialen Medium sehr verständlicherweise gedroht, alle zu entfreunden, die Gartenbilder posten. Ausnahme gilt selbstverständlich für solche, die aussehen wie aus Hammer Horror-Filmen.

Seit einer Woche haben wir nun auch hierzulande mehr oder weniger Ausgangssperre (nicht mehr als einmal die Woche einkaufen, Abstand halten... ihr kennt den Drill), und es heißt, wenn wir uns alle wirklich diszipliniert dran halten, könnten wir die prognostizierte Opferzahl auf „nur“ 20.000 senken.

Und trotzdem sieht man immer noch Bilder von überfüllten U-Bahn-Zügen, denn die fünf Millionen Freelancer*innen in Großbritannien müssen immer noch essen und Miete zahlen. Und es gibt auch immer noch Angestellte, deren Chef*innen die Ausnahmeklausel für „essential workers“ (bei euch sagt man glaub ich „systemrelevant“) im Sinne von „notwendig für das Wohl meiner Firma“ interpretieren.

Was sich dann unter anderem darin äußert, dass schwangere Frauen entweder gleich gekündigt oder zum Weiterarbeiten gezwungen werden.

Es gibt auch ehrlich gesagt wenig Ungesünderes für das Geschirr in meiner Küche, als gleich in der Früh zum Beispiel Interviews mit Vertreter*innen der Baubranche zu hören, die aus der am charakteristisch bunkerigen Skype-Sound erkennbaren Sicherheit ihrer Selbstisolation vermelden, dass man auch die vom Arbeitsverbot großzügig ausgenommenen Baustellen aus wirtschaftlich dringlichen Gründen unmöglich so mir nichts dir nichts abdrehen könne.

Verständlich, dass die Bauarbeiter*innen sich nicht dagegen auflehnen, denn zwischen 40 und 60 Prozent (die Zahlen schwanken) von ihnen sind in Großbritannien scheinselbständig. Für sie und alle anderen Selbständigen (aber, soweit ich höre, nicht für die Nullstunden-Vertrag-Bediensteten) hat Schatzkanzler Rishi Sunak gestern ein neues Unterstützungspaket verlautbart.

So wie die Angestellten sollen auch sie vom Staat 80 Prozent ihres sonstigen Verdiensts ersetzt bekommen. Anträge darauf können aus administrativen Gründen allerdings erst ab Juni gestellt werden.

Die Email kam dagegen fix:

Screenshot Email vom britischen Finanzamt

Robert Rotifer

Ich verfolge ja nur aus der Ferne mit, welche Härtefälle ähnlicher Art gerade bei euch in Österreich erzeugt werden, und weiß nicht genug, um einen konkreten Vergleich anzustellen.

Aber wie viel einfacher wäre das alles abgegangen, und wie viele Menschen vor der Pleite bewahrt, hätte der konservative Schatzkanzler sich zu einem - hier jetzt schon zweimal geforderten, aber auf mich hören sie ja nicht - (temporären) bedingungslosen Grundeinkommen durchringen können?

Und wirkt die gern als Gegenargument vorgetragene Befürchtung, dass jenes Grundeinkommen dann auch an Leute ginge, die es nicht brauchen oder verdienen, denn wirklich schwerer als jene, dass nun andere leer ausgehen, die es zum Überleben brauchen?

Was wiederum den medizinischen Notfall anlangt, der gerade erst richtig anläuft:

Bis heute Nachmittag hatte Großbritannien 759 Tote (181 mehr als gestern) zu verzeichnen.

Darunter eine 36-jährige Frau aus Peckham, Südlondon, die nicht ins Spital mitgenommen und auch nicht getestet wurde, nachdem die diensthabende Sanitäterin sie als „keine Priorität“ eingestuft hatte.

Warum wohl.

Gestern erhielt ich eine SMS meiner Hausarztpraxis zur Verständigung, dass jene wegen Personalmangel geschlossen werden musste.
Es gibt immerhin eine Nummer, die ich anrufen kann, falls ich was brauche: „You will be triaged by a clinician and if needed asked to attend another site,“ steht da. Bürokraten-Englisch ist schon die härteste Sprache der Welt, kommt mir vor.

Aber hey, Hauptsache Charles und Camilla wurden getestet (er positiv, sie negativ, küssen die sich denn nie?). Und die süßen königlichen Urenkelchen sah man gestern im Fernsehen eifrig klatschen, als um acht Uhr abends – nach französischem Vorbild, den Brexiteers das bitte nicht weitersagen – das ganze Land den Arbeiter*innen des Gesundheitssystems am offenen Fenster, auf Balkonen und in Vorgärten Applaus spendete.

Auf Twitter sah ich dann einige der Beklatschten antworten, dass sie statt Beifall eigentlich lieber brauchbare Atemschutzmasken und Schutzanzüge hätten.

Das sind dann die bitteren Pointen, die es lohnt, niederzuschreiben. Und nicht zu vergessen, wenn das alles irgendwann einmal vorbei sein sollte.

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