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Vergnügungspark von Jerevan

radio fm4 / Anna Katharina Laggner

Die größte Freiheit: zu Fuß gehen. Wenn’s sein muss, auch durch die Geisterbahn von Jerevan

Nun, da wir Menschen auf Reisen im eigenen Zimmer beschränkt sind, ist es erbaulich, Reiseerinnerungen zu haben. Ich höre mich durch mein ungeordnetes Soundarchiv mit Audiofetzen von irgendwo. Nun muss die Welt zu uns kommen.

Von Anna Katharina Laggner

Es kostet einige Überwindung, die Geisterbahn von Jerevan zu betreten. Sie befindet sich im Vergnügungspark auf einem Hügel am Rand der Stadt, neben der riesenhaften Statue der Mutter Armeniens und einem beschaulichen Park voller Panzer. Der Vergnügungspark wurde offenkundig seit seiner Errichtung zu Sowjetzeiten nicht gewartet, was ihm neben dem Retrocharme auch ein gewisses Risikopotential beschert. Mir wurde das allerdings erst hoch über den Baumwipfeln während einer Schleuderfahrt mit einem Gerät namens Tornado bewusst. Ich hatte Todesangst. Davor war ich in der Geisterbahn.

Vergnügungspark von Jerevan

radio fm4 / Anna Katharina Laggner

An diesem regnerischen Oktobertag im Jahr 2007 waren außer uns nur ein paar Frauen im Vergnügungspark, die vor einer Getränkebude Unmengen von Kraut hobelten. Und wir, eine Handvoll Studentinnen und ich, die ich ihnen meine Idee des Radiomachens vermittelte. Wir hatten vor, in der Geisterbahn unsere Kommentare live aufzunehmen.

WAV (14.1 MB)

In der Geisterbahn von Jerevan gibt es keine Wagerln, die einen auf quietschenden Schienen zu den Geistern kutschiert, sondern man muss selbst hingehen, zu den Geistern. Was aus dieser Attraktion eine Mutprobe macht, wie ich sie seit den 1980ern nicht mehr erlebt habe, als wir auf Kinderferienlagern in der Nacht allein durch den Wald geschickt und erschreckt wurden. Man tappt Schritt für Schritt durch die Dunkelheit, der Ungewissheit, nein, der Gewissheit entgegen, gleich vor Schreck tot umzufallen oder zumindest in die Hose zu machen. Vorsorglich kreischt man. Die eine Hand am Aufnahmegerät, die andere Hand ausgestreckt tastend.

Vergnügungspark von Jerevan

radio fm4 / Anna Katharina Laggner

Mal fängt der Boden an, wild zu vibrieren, mal ist da ein Abgrund unter den Füßen, mal stößt man an eine Wand, von der eine giftgrüne Fratze frenetisch zu blinken beginnt. Doch ähnlich wie der Transport, den sich diese Geisterbahn erspart, sind auch die Mittel der Schreckerzeugung nicht übermässig aufwändig. Eher kommunistisch: minimal im Einsatz, maximal in der Wirkung. Eine Wirkung, die allein dadurch entsteht, dass man zu Fuß geht.

Gehen ist grundsätzlich die Freiheit schlechthin und man kommt damit sehr weit, praktisch um die ganze Welt. Als ich ein halbes Jahr nach dem Geisterbahn-Ereignis wieder in Armenien war, diesmal als Wahlbeobachterin der Präsidentschaftswahlen im Februar 2008, wurde meine Wahlbeobachtungsgruppe in einem Hotel untergebracht, in dem jedes Zimmer mit einem überdimensionalen Jacuzzi und/oder einer Poledance-Stange ausgestattet war. Manche von uns schliefen unter Baldachinen, andere in Wasserbetten und ich hatte augenblicklich nach Betreten dieses Etablissements das Bedürfnis, zu gehen, was in Anbetracht der geographischen Lage nur an der Landstrasse möglich war, auf der ich allerdings bereits nach wenigen Schritten von einem sich verlangsamenden Auto behelligt wurde, dessen Fahrer mit mir, das verstand ich auch ohne ein Wort Armenisch zu sprechen, unter meinen Baldachin wollte.

Eine Freundin erzählte mir vor ein paar Tagen, dass sie und ihre Mitbewohnerin vor dem Schlafengehen das Bedürfnis nach Bewegung hatten und um 23 Uhr auf der leeren Meidlinger Hauptstraße spaziert sind, wo sie eine Polizeistreife aufhielt und nach Hause schickte. Interessanterweise fand sie das in Ordnung. Und protestierte nicht, dass Ausgangsbeschränkungsausnahmefall Nummer 4, also „Spaziergänge nur einzeln oder mit Personen, mit denen man zusammen wohnt“ nicht an eine bestimmte Zeit gebunden ist, konkret an jene, die landläufig als Bewegungs-, Spaziergangs- und Freizeitzeit verstanden wird. Hat eine Person, die um 3 Uhr in der Früh nicht schlafen kann, nicht das Recht, einzeln einen Spaziergang zu machen? Warum sind Menschen, die in der Dunkelheit gehen, immer suspekt?

Ich hoffe, dass wir die Geister, die wir zur Eindämmung der unsichtbaren Gefahr rufen, wieder in die Bahn lenken werden. Ich meine nicht die rechte.

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Die Geisterbahn von Jerevan
Nun, da wir Menschen auf Reisen im eigenen Zimmer beschränkt sind, ist es erbaulich, Reiseerinnerungen zu haben. Ich höre mich durch mein ungeordnetes Soundarchiv mit Audiofetzen von irgendwo. Nun muss die Welt zu uns kommen.

Saint-Cirq-Lapopie
Ein Dutzend Einwohner*innen, dafür rund 600.000 Tourist*innen im Jahr. Das südwest-französische Dörfchen Saint-Cirq-Lapopie, wo der Surrealist André Breton lebte, Sting einen Film drehte und ich im Jahr 2015 zwei Monate verbracht habe.

Abchasien
Man betritt Abchasien, von georgischer Seite aus, über den Inguri-Fluss. Er ist eine natürliche Grenze, aber auch die Waffenstillstandslinie, auf die man sich 1994 nach Ende des Abchasien-Krieges geeinigt hat.

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