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Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Wenn deine gerechte Empörung deine Freund*innen krank macht

Die Zahl britischer Todesopfer steigt immer noch steil an, das Gesundheitssystem kracht bereits gewaltig, und Ärzt*innen, die über das administrative Versagen ihrer Vorgesetzten und der Regierung Alarm schlagen, werden mit Kündigung bedroht. Man will’s von allen Dächern schreien. Warum ich trotzdem beschlossen habe, genau damit jetzt vorsichtiger zu sein.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Meine letzte Kolumne hier ist bloß fünf Tage her, und sie fühlt sich schon an wie aus einer anderen Welt.

Ich glaub, ich muss jetzt was offenlegen: Ich war mir noch nie so unschlüssig darüber, was ich hier überhaupt schreiben soll. Nicht, weil es zuwenig zu berichten gäbe, ganz im Gegenteil. Aber weil ich mir zunehmend schwertue zu beurteilen, was davon ich berichten soll bzw. wo und wozu.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Mir ist natürlich bewusst, was für eine Funktion meine dauerfrustrierten Blogs hier in den letzten drei, vier Jahren erfüllt haben. Die Tragikomik der britischen Selbstdemontage hatte wenigstens den Nebeneffekt, jenseits des Kanals für ein bisschen Zerstreuung zu sorgen. Großbritannien hatte es reichlich verdient, dass ihr euch unter dem schadenfrohen Motto Gottseidank nicht in England auf unsere Kosten amüsiert und ein bisschen angruselt. So arg, die Briten.

Ich könnte heute ganz problemlos so eine Kolumne liefern, Stoff dazu gäb’s genug. Aber ich bezweifle, dass ihr das jetzt brauchen könnt, und ich frage mich auch, ob ich unter den derzeitigen Umständen diese Rolle spielen will.

Denn in den sozialen Medien, die für unsere Kommunikation heute längst keine triviale, sondern essentielle, aber auch eine sehr mächtige Rolle spielen, stolperte ich in den letzten Tagen über einige Posts von Freund*innen, die sich emotional über die Flut an Opferzahlen, hausgemachten Statistiken und Desaster-Voraussagen auf ihren Timelines beschwerten.

Jedes Posting ein Anschlag auf die Psyche

Das, so meinten diese Freund*innen, erzeuge in ihnen bloß noch mehr Verunsicherung und Angst, jedes Posting sei ein weiterer Anschlag auf ihr ohnehin schon fragiles psychisches Wohlbefinden.

Meine instinktive Reaktion darauf war: Tut mir ja herzlich leid für euch, aber erstens hat es keinen Sinn, vor der Realität die Augen zu verschließen, und zweitens ist es eine politische Notwendigkeit, die Versäumnisse der Regierung und die Mängel des kaputtgesparten britischen Gesundheitssystems aufzuzeigen.

Bis ich dann mitkriegte, dass beide Eltern eines engen Londoner Freunds mit Covid-19-Erkrankung in verschiedenen Spitälern auf der Intensivstation liegen, die Mutter bei Bewusstsein, der Vater intubiert am Beatmungsgerät.

Ein anderer Londoner Bekannter hat nach endloser Telefonrecherche erfahren, dass seine Frau in Croydon ebenfalls an einem Beatmungsgerät hängt, aber auch er kann sie seit Wochen nicht besuchen.

Beide gehörten zum Kreise jener, die sich über die Katastrophen-Postings beschwert hatten.
Und ich kann mir kaum vorstellen, wie hilflos, nervös und besorgt sie sich dieser Tage fühlen.

Dieser Gedanke machte mir sehr schnell bewusst, dass meine instinktive Reaktion ein ziemlich ahnungsloses, unsensibles Arschloch sein kann.

Nachdem wir das nun geklärt hätten:

Ihr seid bis zum zwölften Absatz in diesem Blog vorgedrungen, und im Vertrauen darf ich euch sagen, dass mir mein Gastland hier nach wie vor große Sorgen macht.

Nach heutigem Stand halten wir bei 2.921 Todesopfern. Das sind fast viermal so viel wie vor fünf Tagen und bedeutet, dass die britische Kurve ähnlich der US-amerikanischen auch nach zwei Wochen Lockdown immer noch steil nach oben geht.

Aber auch diese Zahl repräsentiert nur Todesfälle in Spitälern. Wer zu Hause stirbt, weil sie/er dem Ratschlag gefolgt ist, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, kommt in dieser Statistik nicht vor.

In der Zwischenzeit wurden in Ballungsgebieten wie London, Birmingham, Cardiff und Manchester Feldspitäler organisiert. Das größte darunter ist das im ExCel-Conference Centre im Osten von London in einem Zeitraum von knapp zwei Wochen auf die Beine gestellte Nightingale Hospital mit 4.000 Betten für „critical care“ (nicht dasselbe wie „intensive care“). Als freiwilliges Krankenpflegepersonal wurden dafür unter anderem hunderte zwangspausierende Flugbegleiter*innen vom Flughafen Gatwick engagiert.

Das National Health Service hatte – dank der Abschaffung geförderter Ausbildungsplätze für Krankenpfleger*innen, schlechter Löhne, dem Herannahen des europäische Arbeitskräfte abschreckenden Brexit und grundsätzlich rigider werdender Einwanderungsgesetze - schon vor einem Jahr 100.000 unbesetzte Posten zu beklagen. Dieser Arbeitskräftemangel hat sich nun verschärft, nachdem jede*r vierte NHS-Bedienstete sich wegen möglicher Corona-Virus-Symptome (bei sich selbst oder unter Angehörigen) isolieren musste.

Maulkorb für aufmüpfige Ärzt*innen

Als bis gestern endlich die ersten Ergebnisse an einer Gruppe von 900 nach Hause geschickten Mediziner*innen vollzogener Tests ausgewertet wurden, stellten sich nur 15 Prozent davon als positiv heraus.

Der Mangel an Tests für die Mitarbeiter*innen des Gesundheitssystems verursacht also potenziell 85 Prozent unnötige Ausfälle.

Mittlerweile wird die Regierung auch von den Titelseiten ihrer sonstigen Jubelblätter wie der Daily Mail oder dem Telegraph aus scharf kritisiert, und Boris Johnsons aus der Isolation ins Handy gesprochene Versicherungen und die Pressekonferenzen seiner Adlati treffen auf offene Skepsis.

Berichte über Ärzt*innen, die von ihren Vorgesetzten mit beruflichen Konsequenzen bedroht wurden, weil sie sich öffentlich kritisch über den skandalösen Mangel an Schutzausrüstung äußern, fördern den Eindruck einer konzertierten Vertuschung.

All das wird man sich genau merken müssen, wenn dereinst die Geschichte dieses Desasters untersucht werden soll.

Besonders absurd scheint etwa die Behauptung, die Regierung sei mit der Beschaffung von Tests ins Hintertreffen geraten, weil sie ursprünglich eine andere Strategie verfolgt habe. Schließlich hatte es auch in der Phase der inzwischen offiziell bestrittenen, aber eindeutig nachweisbaren Herdenimmunitätsstrategie immer geheißen, diese beruhe auf fein kalibrierten, auf die Zahl der Infizierten abgestimmten Maßnahmen. Wie soll sowas gehen ohne flächendeckende Tests?

Mittlerweile sind bereits vier Todesfälle unter den behandelnden britischen Ärzt*innen zu beklagen, alle vier übrigens Muslime mit afrikanischen und asiatischen Wurzeln, eine bittere Ironie angesichts der populistischen Dämonisierung, die die muslimische Minderheit in den letzten Jahren mit dem Lauterwerden nativistischer Tendenzen erleiden musste.

All das verdient Öffentlichkeit. Aber wenn ohnehin schon am Rande des Nervenzusammenbruchs wandelnde Menschen jetzt lieber nicht mit apokalyptischen Vorahnungen und farbenfrohen Bedrohungsszenarien beworfen werden wollen, kann man ihnen das auch nicht ganz verdenken. Und wie ich mich so auf der österreichischen Hälfte meiner Timelines umsehe, kommt mir vor, das ist bei euch auch nicht so völlig anders.

Wie ihr damit umgeht, ist natürlich eure eigene Entscheidung. Aber es ist sicher keine schlechte Idee, sich zu fragen, was genau man eigentlich tut, bevor man seiner gerechten Empörung Luft macht und die nächste Horror-Meldung in den Breitband-Äther schießt.

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