FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

weiße Tabletten auf hellblauem Hintergrund

CC0

buch

„Schlachthof und Ordnung“: Das Paradies in Form einer Tablette?

In Christoph Höhtkers Roman „Schlachthof und Ordnung“ erobert ein Benzodiazepin-ähnlicher Wirkstoff den Markt und alle verfallen der Glücksdroge. Eine gesellschaftliche Dystopie oder bereits Realität?

Von Melissa Erhardt

Was würdest du tun, wenn du wüsstest: Es gibt ein Medikament, das dir jegliche Ängste und Unsicherheiten nimmt, dich glücklich macht und politisch aktiv? Du weißt aber, dass du nie mehr davon loskommst. Würdest du ewige Abhängigkeit für ewiges Glück in Kauf nehmen?

Buchcover „Schlachthof und Ordnung“

radio fm4/ Melissa Erhardt

„Schlachthof und Ordnung“ ist bei weissbooks erschienen.

Christoph Höthker entwirft in seinem neuen Roman „Schlachhof und Ordnung“ ein Bild von einer Gesellschaft, die unserer erschreckend zu ähneln scheint. Leistungsdruck, politische Extreme und Ehen, denen es an der wichtigsten Ressource, der Liebe, mangelt. Zusammengehalten wird alles vom fiktiven Benzodiazepin-ähnlichem Wundermittel Marom mit dem fiktiven Wunderwirkstoff Marazepam. Es wirkt, wie normale Benzodiazepine, angstlösend und entspannend, zusätzlich aber noch euphorisierend und vitalisierend. Abhängige beschreiben es als eine „Wolke aus Wärme und Zärtlichkeit“, als „Paradies in Form einer Tablette".

Von Xanny zu Marazepam

Der Roman wurde von einem Freund Höhtkers inspiriert, der von der wunderbaren Wirkung eines Muskel-Entspanners schwärmte. „Es bewirkte, dass ihm alles andere egal wurde“, sagt Höhtker im FM4- Interview. Tatsächlich sind Benzodiazepine die am meisten verschriebenen Medikamente weltweit. Der Angstblocker Xanax mit dem Benzodiazepin Alprazolam hat es sogar geschafft, der Inbegriff einer von Depressionen geplagten jungen Generation zu werden. Dafür sind vor allem US-amerikanische Soundcloud-Rapper wie Lil Uzi Vert und Lil Peep verantwortlich, die mit Lines wie „Xanny, help the pain, Please, Xanny make it go away“ in den Mainstream gechartet sind.

Abhängige beschreiben es als eine „Wolke aus Wärme und Zärtlichkeit“, als „Paradies in Form einer Tablette".

In Höthkers Roman hat Marazepam seit einigen Jahren den Pharma-Markt erobert und ist für einen Großteil der Bevölkerung überlebenswichtig geworden. Auf irrwitzige und schräge Weise erzählt der Bielefelder Autor Christoph Höthker die Geschichte mehrerer Personen, die allesamt versuchen, einen Sinn in ihrem Leben zu finden: Sei es durch berufliche Erfolge, politischen Aktivismus oder Liebe, Sex und Zärtlichkeiten. Bei manchen ist die einzige Sinnquelle aber nur noch Marom. Ohne Marom wollen sie nicht weiterleben.

Psychoanalyse vom Feinsten

Die einzelnen Charaktere sind dabei so ausgefeilt und tiefgründig, als hätte sie Christoph Höhtker auf Freuds Sofa gelegt. Da wäre zum Beispiel Joachim A. Gerke. Auch wenn er nicht der interessanteste Charakter ist, muss er doch irgendwie an erster Stelle genannt werden. Er, selbst schwerst Marom-abhängig und im Dauerrausch, schreibt nämlich einen Roman über genau diese Marom-Welt. Alle anderen Charaktere und Geschichten finden damit nur in seinem Kopf statt. Inception deluxe, also.

Oft verwirrt einen diese Realitäts-Verschachtelung, man muss vor- und zurückblättern, um zu verstehen, in welchem Kopf man sich gerade befindet. Die Marom-Geschichte wird grob an drei Personen erzählt: Patrick Esnèr, der im Management einer der größten Fleischproduzenten Frankreichs sitzt, Marc Toirsier, Journalist im Pariser Le Miroir und Eric LeForbes, Geschäftsführer des Pharmaproduzenten Winston Pharmaceutics in Deutschland. LeForbes stellt Marom her, Toiriser war Marom-abhängig und befindet sich jetzt auf Entzug, Esnèr profitiert schlussendlich davon.

Autor Christoph Höhtker

Alexandra Sonntag

Christoph Höhtker, 1967 in Bielefeld geboren, Soziologiestudium. Lebt seit 2004 in Genf und arbeitet dort für eine internationale Organisation.

Dazu kommen spannende Nebencharaktere, wie etwa Gina Vermehren, ein Callgirl die gerade an ihrer Diplomarbeit in Soziologie schreibt und in einer links-feministischen Terrorgruppe aktiv ist. Sie liefert in einem simplen Dialog mit ihrem Kunden, Eric LeForbes, eine sozialwissenschaftliche Einordnung des Berufs der Escort-Dame, die wohl vielen medialen Diskussionen einiges voraus ist:

„Heute, in einer sowohl post- als auch hyperkapitalistischen und pseudo-individualisierten Gesellschaftskonfiguration, ist es eher unsere Funktion als Gekaufte, als Beschenkte, in jedem Fall als Passive, die den niedrigen Standort auf der gesellschaftlichen Hierarchie-Skala determiniert. Dieses ganze Gerede von wegen selbstständige Unternehmerin, Sex-Arbeiterin und so weiter ist meines Erachtens ein notwendiger rhetorischer Kniff, um genau in diesem Bereich mittels sprachlicher Zuschreibung, mit Worten letztendlich, eine neue Realität und damit auch eine neue Reputation zu produzieren.“

Dystopie oder Realität?

Einen Wohlfühl-Faktor lässt Höhtker nie aufkommen. Leidenschaftliche Liebesaffären werden angerissen, um diese dann gleich wieder im Keim zu ersticken. Die Lektüre gleicht in manchen Kapiteln eher einem nächtlichen Fiebertraum. Fast so, als ob man selbst auf Marom wäre. Während des Lesens fragt man sich, ob diese Gesellschaft denn überhaupt noch so weit weg von der unseren ist.

Christoph Höhtker sieht das gespalten: „Ich denke nicht, dass ‚Schlachthof und Ordnung‘ die Wirklichkeit abbildet, aber natürlich hab ich mich für den Text ein bisschen von der Wirklichkeit inspirieren lassen. ‚Schlachthof und Ordnung‘ sind quasi Elemente der Wirklichkeit verbunden mit der Hoffnung, dass der Text niemals Wirklichkeit wird.“

mehr Buch:

Aktuell: