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Boris Johnson applaudiert mit krankem Gesicht

APA/AFP/10 Downing Street/Pippa FOWLES

ROBERT ROTIFER

Der tödliche Machismo der Bulldog Breed

Es muss möglich sein, Boris Johnson baldige Besserung zu wünschen und gleichzeitig die Verantwortungslosigkeit seines Verhaltens zu kritisieren.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Heute in der Früh bin ich an der zugegebenermaßen niedrigen Küchendecke geklebt. Schuld an meinem von purem Zorn befeuerten Abheben war ein Gespräch, das der BBC-Nachrichtenmoderator Justin Webb mit dem Historiker Andrew Roberts, Autor der populären Churchill-Hagiographie „Walking With Destiny“, führte.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Dabei ergingen sich die beiden in Vergleichen zwischen dem historischen Churchill und dessen gegenwärtig außer Gefecht gesetzter Buffo-Version. Auch Churchill, sagten sie, habe sich extremen Risiken ausgesetzt, sei auf dem Dach gestanden während der deutschen Bombardements, habe nie auf die Ratschläge seiner Ärzte gehört.

Na klar, völlig vergleichbar, ganz dasselbe wie bei Boris Johnson, bloß dass der - kleiner Unterschied! - mit seinem die Anweisungen des eigenen Chief Medical Officer unterminierenden, demonstrativen Schütteln der Hände von Infizierten nicht nur sein eigenes, sondern das Leben aller Menschen um ihn herum riskiert hat.

Unter anderem jenes seiner in der Downing Street lebenden, hochschwangeren Freundin, die ihre Erkrankung im Gegensatz zum immer noch auf der Intensivstation liegenden Premier glücklicherweise überstanden zu haben scheint.

Mehr braucht man über Johnsons Charakter eigentlich gar nicht zu wissen.

Und insofern erstaunt es dann doch, wie gründlich sich eine scheinbar seriöse BBC-Nachrichtensendung jeder Art von kritischem Denken entledigt, sobald einmal die Kriegsmetaphern ausgepackt sind.

Ich werde hier jetzt keinen Blog schreiben über die Unerträglichkeit des im Angelsächsischen in Zusammenhang mit Krankheiten verwendeten Vokabulars des Kämpfens und gewonnener Schlachten gegen das feindliche Virus, welches impliziert, dass das Überleben eine Frage von Mut, Tapferkeit oder Charakterstärke sei. Diese Kolumne hat die Guardian-Autorin Marina Hyde heute schon in so gut wie idealer Formulierung veröffentlicht.

Okay, ich finde ja, sie ist dabei ein bisschen zu großzügig in ihrem Lob der Fernseh-Ansprache der Queen, schließlich bemühte die ebenfalls Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg, aber der Rest ihres Texts trifft den toxisch martialischen Kern der Sache umso genauer.

Unter anderem thematisiert Hyde auch wie neulich hier Kollege Blumenau die auffällige Abwesenheit von Frauen in der öffentlichen Präsentation dieses Pseudo-Kriegs.

Immerhin, es gibt die stellvertretende Chief Medical Officer Jenny Harries, die bei den täglichen Pressekonferenzen eine Zeitlang ihren erkrankten Vorgesetzten Chris Whitty ersetzte, und im schottischen Äquivalent seiner Funktion amtierte bis vor kurzem eine Frau namens Catherine Calderwood. Die musste allerdings am Wochenende zurücktreten, weil sie trotz vormaliger Verwarnung durch die Polizei zum zweiten Mal unerlaubterweise mit ihrer Familie ins Wochenendhaus gefahren ist.

Arrogant und bescheuert, zweifellos, aber eine Lappalie gegenüber den Verantwortungslosigkeiten, die Boris Johnson als Heldentaten angerechnet werden.

Gar nicht auszurechnen, was sein „Vorbild“ im steife-Oberlippen-Machismo der Bulldoggenbrut (populäre Eigenbezeichnung) alles an Nachahmungstaten auslöst.

Es heißt andererseits auch, Johnsons Erkrankung habe in den sozialen Medien viel herzlose Häme ausgelöst.

Ich sehe auf meiner Twitter-Timeline jedenfalls geschätzt hundertmal so viele Genesungswünsche politischer Gegner*innen Johnsons als Beispiele der zurecht als verwerflich gebrandmarkten Schadenfreude.

So oder so muss es möglich sein, ihm baldige Besserung zu wünschen und gleichzeitig die Fahrlässigkeit seines Verhaltens zu kritisieren.

Und überhaupt stößt es doch auch ziemlich unangenehm auf, dass sich die gesamte Energie der Berichterstattung auf sein Wohlergehen konzentriert, während die gestrige Zahl von 786 neuen Todesfällen in den britischen Krankenhäusern kaum mehr Erwähnung fand.

Nicht enthalten sind in dieser Zahl immer noch jene, die in den Bettenstationen der Altersheime sterben, gleich 13 davon neulich in einem einzigen Glasgower Pflegeheim.

Wie berichtet wurde, hat das Gesundheitssystem die dem Virus oft ungeschützt ausgesetzten Pfleger*innen wissen lassen, dass Patient*innen über 75 von Spitälern nicht aufgenommen würden. Eugenische Selektion ist im Großbritannien des Jahres 2020 also bereits längst Alltag geworden.

PS: Was einstweilen in den USA vor sich geht, entbehrt jeder Vorstellung. Ich trauere um John Prine und Hal Willner und denke an die in Paris am Beatmungsgerät hängende Marianne Faithfull. Ja, ich bin sicher, auch sie kämpft, aber nicht gegen das Virus wie Churchill gegen die Nazis, sondern schlicht und einfach ums Überleben.

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