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Saint-Cirq Lapopie

Siegfried A. Fruhauf

Irgendwo auf der Welt: Saint-Cirq-Lapopie

Ein Dutzend Einwohner*innen, dafür rund 600.000 Tourist*innen im Jahr. Das südwest-französische Dörfchen Saint-Cirq-Lapopie, wo der Surrealist André Breton lebte, Sting einen Film drehte und ich im Jahr 2015 zwei Monate verbracht habe.

Von Anna Katharina Laggner

Die normale Wirklichkeit, also die Wirklichkeit des Alltags, sollte ersetzt werden, zum Verschwinden gebracht durch eine neue Wirklichkeit, eine Art barrierefreies Denken und Tun. Darum ging es André Breton, dessen Manifest des Surrealismus die Grundlage der gleichnamigen Strömung ist, in dessen Wohnung am Pariser Montmartre sich neben ozeanischen Masken und einem Gemälde von Miró auch 95 schmiedeeiserne Waffeleisen befanden und dem wir das Spiel Cadavre Exquis verdanken, mit dem jede langweilige Schulstunde sinnvoll zu füllen ist (okay, braucht man jetzt nicht, kommt aber wieder). Dieser André Breton sagte über das Dörfchen Saint-Cirq-Lapopie: „seitdem ich hier bin, sehne ich mich nirgendwo anders mehr hin“ (J´ai cessé de me désirer ailleurs) und kaufte sich 1951 ein ehemaliges Flößerhaus im Dorf.

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Als ich Mitte April 2015 in Saint-Cirq-Lapopie angekommen bin, war es kalt und das Dorf leer. Wir waren circa zehn Leute, dazu ein paar Kinder, aus Deutschland, Italien und Frankreich, um für den Sommer eine Ausstellung vorzubereiten, den Parcours d´Art du Valée du Lot. Wir haben in einem der alten Steinhäuser mitten im Dorf gelebt, dem Maison Daura, direkt neben dem Friedhof gelegen, auf dem praktischerweise zwei große Rosmarin-Sträucher wuchsen. Es schien mir, als wären wir die einzigen Menschen im Dorf. Nachts sind Füchse gekommen und haben unsere Müllsäcke vor dem Haus zerfetzt.

Saint-Cirq Lapopie

Siegfried A. Fruhauf

Doch mit den ersten Sonnenstrahlen kamen nicht nur Menschen, sondern Massen. 600.000 Tagestourist*innen sollen es jährlich sein. Eine Psychologin, gebürtige Pariserin, die in den 1970er-Jahren dem Ruf des Valée du Lot als Hort der Aussteiger, Hippies und Exzentriker gefolgt ist (und nicht enttäuscht wurde) und nach wie vor im Dorf lebt, sagte zu mir, würde André Breton noch leben, er täte es wie sie und sich ein Refugium hoch oben in den Bäumen suchen.

Zwei Frauen hinter einem Fenster

Anna Katharina Laggner

Die erste Bewohnerin, die ich kennen gelernt habe, war Marie-Christine. Saint-Cirq-Lapopie ist sehr klein, es liegt auf einem Felsen oberhalb des Flusses und ist am oberen Rand von einem wilden Wald umgeben. An diesem Waldesrand lebt in einem ehemaligen Stall Marie-Christine mit ihrer Katze. Nachdem sie mir Anzahl und Namen der Esel aufgezählt hat, die im Dorf gelebt haben, als sie dort angekommen ist, konnte ich sie fragen, wie viele Menschen heute das ganze Jahr über in Saint-Cirq-Lapopie leben (neben den US-amerikanischen, kanadischen, chinesischen, australischen Zweit/Dritt/Viertwohnsitzbesitzer*innen). Bei drei hat sie zu zählen aufgehört.

Tatsächlich waren es 2015 etwa ein Dutzend, wobei ich nicht weiß, wer von diesen großteils sehr alten Menschen noch am Leben ist. Ginette, die am Hauptplatz wohnt und mir davon berichtet hat, dass der große Tourismus eigentlich mit einem Film begonnen hat, der in Saint-Cirq gedreht wurde, einem kommerziellen Misserfolg, in dem Sting als Baron Frankenstein auftritt. Oder Madi, die alte Trafikantin, die mich zwar immer anschnauzte („was schnüffelst du da schon wieder herum mit deinem Mikrophon?“), mir dann aber doch erzählte, dass André Breton und die andren Surrealisten sehr höfliche Menschen gewesen seien. Oder die, die dafür zuständig war, dass die Kirche jeden Tag aufgesperrt wird. Das weiß ich nicht, ob die noch leben.

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Siegfried A. Fruhauf

Aber ich wollte ohnehin noch einmal nach Saint-Cirq-Lapopie, weil mir Marie-Christine vom Winternebel vorgeschwärmt hat, und dass dann auch tagsüber niemand da sei. Eine seltsame Vorstellung: im Sommer wie in einer Vitrine zu leben, ausgestellt als Autochthone eines Ortes, der nur für den Besuch existiert und im Winter in totaler Abschottung, auf der Schattenseite eines Tales, wo außer Tabak wenig wächst. Nächsten Winter, wenn man wieder darf, besuch’ ich sie. Obwohl Frau Köstinger sagt, man soll jetzt den „heimischen“ Tourismus unterstützen, werde ich mich auch mit dem französischen solidarisch zeigen. Da reist nämlich auch grad niemand rum.

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