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Abchasien

Evelina Taunyte

Irgendwo auf der Welt: Abchasien

Ich kann nicht wissen, wie es anderen geht (denn man spricht ja mit niemandem mehr außer mit Leuten, die man schon kennt), aber ich fühle mich mittlerweile der Welt ein wenig beraubt. Zeit also, zumindest in Gedanken ins Niemandsland zu reisen.

Von Anna Katharina Laggner

Man betritt Abchasien, von georgischer Seite aus, über den Inguri-Fluss. Er ist eine natürliche Grenze, aber auch die Waffenstillstandslinie, auf die man sich 1994 nach Ende des Abchasien-Krieges geeinigt hat. Seit 1999 ist Abchasien unabhängig, das Land ist zwar völkerrechtlich ein Teil von Georgien, de facto aber hat Abchasien eine eigene Regierung, auf die Georgien keinen Einfluss hat. Es gibt weder Frieden noch Krieg und die Republik Abchasien wird nur von einer Handvoll Staaten wie etwa Russland oder Tuvalu als souverän anerkannt. Für die georgische Bevölkerung Abchasiens endet mit der Waffenstillstandslinie die Bewegungsfreiheit im eigenen Land.

Meine Woche im Niemandsland

Über die Grenze kommen wir – meine litauische Freundin und ich – zu Fuß. Werden von georgischen Soldaten mit einem Unterton eines Vorwurfs von Verrat gefragt, was wir in Abchasien wollen, dann von russischen Soldaten angepöbelt und zwischen Panzern durchgelotst, gehen über die Brücke und stehen vor kettenrauchenden abchasischen Soldaten. Diese verschwinden mit dem Fax, für das ich eine Woche lang täglich beim abchasischen Außenministerium angerufen habe, in ihren Blechverschlag. Irgendwann dürfen wir das geopolitische Niemandsland betreten, kommen aber nicht weit.

Wenige Meter nach der Grenze platzt ein Reifen des Autos, das ich bestellt habe und uns tatsächlich erwartet hat. Meine Freundin schlägt dem Fahrer vor, bei einer Werkstatt anzurufen. Der Mann in der schwarzen Lederjacke, der uns nur mit einem Kopfnicken begrüßt und seitdem keine Miene verzogen hat, schmunzelt und sagt, hier könne man überhaupt niemanden anrufen.

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Rund 250.000 Georgier*innen sind während des Abchasienkrieges aus ihrer Heimat geflohen und leben als Binnenflüchtlinge verstreut in Georgien (bis ins Jahr 2005 etwa im Hotel Iveria in Tiflis, einem sowjetischen Luxushotel, das die Geflüchteten über die Jahre zu einem Paradebeispiel architektonischer Aneignung und einem Wahrzeichen der turbulenten politischen und wirtschaftlichen Zeiten gemacht haben, das ist auch Teil der Geschichte).

Da die Geflüchteten nicht zurück dürfen, nicht wissen, was mit ihren Häusern geschehen ist, keine Verbindung in die alte Heimat haben und wie all die anderen Georgier*innen, die früher jeden Sommer an der abchasischen Küste verbracht haben, ihren Erinnerungen nachhängen, wird der Gedanke an Abchasien in Georgien zu einer Sehnsucht nach dem Paradies. Einem Paradies, das tatsächlich auf kleinstem geographischen Raum schneebedeckte Gipfel, palmengesäumte Strände und Bergseen vereint (an einem dieser Seen hatte Genosse Stalin seine Urlaubsresidenz, heute ein Museum, in dem man Stalins Vorliebe für große, leere Badezimmer bestaunen kann). Aber auch: ein Land ohne eigene Pässe, ohne eigene Grenzen, ohne Souveränität, abhängig von Russland.

Abchasien

Evelina Taunyte

Mir kommt es wie Stunden vor, wie wir über holprige Straßen von der Waffenstillstandslinie nach Sukhumi, Abchasiens Hauptstadt, fahren. Vorbei an riesigen sozialistischen Bauten, von denen verrostete Drähte wegstehen, deren Dächer fehlen, die schwarz von Ruß sind, verlassen. Ganze Dörfer, teils verbrannt, teils zerstört, wo kein Leben ist bis auf die Natur. Grüne Palmgewächse, Büsche mit roten Blumen, alles so kreischend lebendig, als müsste die Natur der allgegenwärtigen Tristesse trotzen.

Nachdem uns eine an Skurrilität kaum zu überbietende Mitarbeiterin des De-facto-Außenministeriums in einer längeren Prozedur auch offiziell Einlass gewährt und auf mein Visum statt meines Namens „Scanner“ schreibt, wir im Hinterhof einer alten Frau, die uns ihre „lieben, braven Mädchen nennt“ ein Zimmer beziehen und die Gartentorverriegelung mehrmals unter ihren wachsamen Augen üben, landen wir in einer Wodkaschwemme. Hier hören wir das erste Mal vom Affeninstitut. Von unwürdigen, grausamen Experimenten, aber auch von Aidsforschung, die hier vor dem Krieg stattgefunden hat, von den Affen, die während des Krieges geflohen und teils in die Schusslinien geraten und gestorben sind. Man kann es noch besuchen, das Affeninstitut.

Wir bleiben sieben Tage und wundern uns nicht wenig. Eine junge Abchasin, Tochter eines Haselnussfarmers, führt uns durch eine Straße mit Postkastenfirmen (also eine Straße mit vielen Postkästen), wir heben für einen Grazer Zigarettenpackungssammler Zigarettenpackerln auf (die meine Mutter ein paar Wochen später wegschmeißen wird), wir streunen durch verfallene Paläste, Sommerresidenzen, das Restaurant Dioskuria an der Esplanade, wir vermeiden es, über die ehemaligen Häuser der geflohenen georgischen Bevölkerung zu sprechen.

Wir besuchen die Universität und treffen Student*innen, die ihre Zukunft als Diplomat*innen sehen und ihr Land als „Little Switzerland“ bezeichnen (was ihre diplomatischen Fähigkeiten beweist). Wir interviewen den De-facto-Außenminister des Landes und ich stelle am Ende des Gesprächs fest, dass die Aufnahmetaste die ganze Zeit auf Pause war. Es passt irgendwie: Er repräsentiert ein Land, das es eigentlich nicht gibt.

Weiterlesen: Irgendwo auf der Welt

Die Geisterbahn von Jerevan
Nun, da wir Menschen auf Reisen im eigenen Zimmer beschränkt sind, ist es erbaulich, Reiseerinnerungen zu haben. Ich höre mich durch mein ungeordnetes Soundarchiv mit Audiofetzen von irgendwo. Nun muss die Welt zu uns kommen.

Saint-Cirq-Lapopie
Ein Dutzend Einwohner*innen, dafür rund 600.000 Tourist*innen im Jahr. Das südwest-französische Dörfchen Saint-Cirq-Lapopie, wo der Surrealist André Breton lebte, Sting einen Film drehte und ich im Jahr 2015 zwei Monate verbracht habe.

Abchasien
Man betritt Abchasien, von georgischer Seite aus, über den Inguri-Fluss. Er ist eine natürliche Grenze, aber auch die Waffenstillstandslinie, auf die man sich 1994 nach Ende des Abchasien-Krieges geeinigt hat.

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