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CC0 via Pixabay

Schauen und Staunen: „Im Wald“ von John Lewis-Stempel

Ein Wald ist mehr als nur Bäume. Davon kann der englische Bauer und Naturschriftsteller John Lewis-Stempel hervorragend erzählen. Wie er den Wald nutzt, unterscheidet sich dann doch recht deutlich von durchschnittlichen Waldgenießer*innen.

Von Simon Welebil

„Ein Gedanke: Niemand geht der Geselligkeit halber in den Wald. (Nein, nicht einmal Liebespaare; sie suchen Ungestörtheit. Wie heißt es im Songtitel von Keane: ‚Somewhere only we know‘.) Ein Wald ist ein Ort der Einsamkeit, eine Zuflucht. Im Wald sollte man nichts vorfinden außer überbordender Natur und uralter Ruhe, Gegenwart und Vergangenheit vereint.“

Nirgends auf der Welt kann man so gut nachdenken wie in einem lichten Wald, stellt John Lewis-Stempel, einer der populärsten und am meisten ausgezeichneten „Nature Writer“ Englands fest. Doch der Wald, den er auf seinem gepachteten Grundstück an der Grenze zu Wales vorfindet, ist alles andere als licht, sondern ein einziges unendliches „Meer aus Dornengestrüpp, das um die Bäume brandete, bis auf die kahlen Flächen unter Buchen und Nadelbäumen.“

Buchcover - John Lewis-Stempel "Im Wald"

Dumont Verlag

„Im Wald“ von John Lewis-Stempel ist von Sofia Blind übersetzt worden und im Dumont Verlag erschienen.

So hat er sich daran gemacht, wieder Vielfalt in seinem kleinen Wäldchen, dem Cockshutt Wood, herzustellen. Doch Lewis-Stempel ist kein Förster, im Brotberuf ist er Bauer, so setzt er dessen Werkzeuge ein, etwa Hebridean-Schafe. „Sie sind Brombeervernichter mit Hörnern. Wo Brombeeren wachsen, wächst kaum etwas anderes.“

Ein Wald sollte kein Museum sein

Lewis-Stempel hält nicht nur Schafe, sondern auch Schweine, Rinder und Hühner im Wald, was man schon im Mittelalter so gemacht hat und jetzt den Namen „Agroforstwirtschaft“ trägt. Die Tiere finden im Wald Nahrung, düngen dafür den Waldboden, wühlen die Erde auf, womit sie das Keimen von Samen und Nüssen erleichtern und öffnen dichtes Unterholz dem Licht.

Vier Jahre lang hat Lewis-Stempel den Wald so bewirtschaftet, dass er einerseits großen Nutzen aus ihm ziehen und ihn andererseits genießen kann. Er kennt jeden Baum in dem Wäldchen, das wirklich nicht sehr groß ist, kaum mehr als zwei Fußballfelder, und kann das, was er über sie weiß, auch sehr verständlich und gewitzt vermitteln. Über die Eiche etwa schreibt er: „Für die Briten war die Eiche so etwas wie der Büffel für die Sioux. Der Alles-Lieferant.", oder über eine Wildkirsche, die in voller Blüte steht: „Die Blüten haben einen unverwechselbaren Geruch: nasser Hund mit Limette.“ Seine Beobachtungs- und Beschreibungsgabe sorgen auch für manch anderes sprachliches Highlight, etwa als er Bussarde beim Verschlingen von Regenwürmen entdeckt: „Die übliche adlerhafte Arroganz war von ihnen abgefallen. Sie hatten die Würdelosigkeit von Kunden am Wühltisch beim Sommerschlussverkauf.“

John Lewis-Stempel erfreut sich am Kommen und Gehen der Vögel, dem Kreislauf der Natur, holt sich aus dem Wald, was er und seine Tiere zum Überleben brauchen und liefert sich Kämpfe mit seinen Feinden, neben den Brombeerhecken gehören dazu etwa auch der Bergahorn, die Kanada-Gans und vor allem Grauhörnchen, die selbst in den höchsten Bäumen Vogeleier aussaugen:

„Ich sitze mit der Schrotflinte am Fuß der Hohen Eiche und warte auf Grauhörnchen. Um die Vögel zu retten, müssen noch zwei oder drei Grauhörnchen sterben.“

Naturschriftsteller für ein großes Publikum

John Lewis-Stempel kommt mit seinen Büchern anscheinend nicht nur in England, sondern auch im deutschsprachigen Raum sehr gut an, sonst hätte der Dumont Verlag wohl nicht schon das dritte Buch in vier Jahren übersetzen lassen. Wie schon bei seinen beiden anderen Büchern, die bisher von Sofia Blind ins Deutsche übersetzt worden sind, „Ein Stück Land“ und „Mein Jahr als Jäger und Sammler“ behält Lewis-Stempel auch bei „Im Wald“ eine Art Tagebuchform bei, in der er sich aber zu weiten Exkursen in Geschichte und Literatur hinreißen lässt und auch immer wieder Rezepte aus den Schätzen des Waldes unterbringt – passend zur Saison wären das im April etwa Dolmades aus Bärlauch.

Bei „Im Wald“ kommt allerdings weniger Prickeln auf, als bei den ersten Übersetzungen Lewis-Stempels, sodass einem eine Stelle im Buch - „Zurzeit empfiehlt man Landwirten, ihre Produktpalette zu erweitern. Mein Nebenprodukt sind Bücher.“ - fast schon entlarvend als Uninspiriertheit vorkommen kann.

Weiterlesen:

„Mein Jahr als Jäger und Sammler": Der Engländer John Lewis-Stempel wagt einen radikalen Selbstversuch

Sein eigenes Gemüse anzubauen und seine eigenen Tiere zu halten hat für den Autor und Landwirt John Lewis-Stemple seinen Reiz verloren. In einer Sinnkrise beschließt er, ein Jahr lang ausschließlich von dem zu leben, was die Natur von sich aus hergibt. Dabei muss er nicht nur mit den Wetter, sondern auch mit Gesetzen und Gewissensfragen kämpfen.

Denn im Gegensatz zum letzten Buch, dem grandiosen „Mein Jahr als Jäger und Sammler“ fehlt in „Im Wald“ die Handlung, die das Buch vorantreibt, das Zwischenmenschliche und die moralischen Konflikte. Die komischen Szenen halten sich hier in Grenzen und blitzen nur in jenen Momenten durch, in denen der Autor als Akteur in Erscheinung tritt, wenn er etwa einer dreihundert Kilogramm schweren Sau den Weg versperren muss, damit sie nicht mit ihren Ferkeln das Feld des Nachbarn verwüstet oder wie er mit einer Flinte Nachtwache neben seinem ums Leben kämpfenden Pferd hält.

Beobachter mit breitem Horizont

Da Lewis-Stempel sein Tagebuch im letzten Jahr seiner Waldpacht verfasst, ist er die meiste Zeit nur ein Beobachter im Plastikstuhl und gleicht damit seinem Publikum, wenngleich seine Beobachtungen allerdings vor Details, Wissen und Anregungen nur so strotzen.

Schade ist, dass das schön aufgemacht Buch weder eine Karte des Waldes, noch Skizzen der Bäume und anderen Pflanzen enthält, so bleibt einem als Leser*in nur, nebenbei online selbst nach Bildern zu suchen.

„Im Wald“ ist dennoch ein schöner, vor allem ein sprachwitziger Essay geworden, der uns den Wald mal auf andere Art näherbringt und den man wohl am besten im Schatten einer Eiche liest. Dort kann man sich auch über Lewis-Stempels Psychotest in Ruhe Gedanken machen:

Mit welchem Vogel identifizieren wir uns? Das ist ein Psychotest, besser als der von Hermann Rohrschach. Heute entscheide ich mich für das Teichhuhn, diesen schüchternen Beobachter am Rande. Bei Partys findet man mich immer in der Küche."

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