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Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

COVID-19 in UK: Klatschen oder besser schreien?

Das einzige, was im Katastrophen-Management der britischen Regierung funktioniert, ist die PR-Abteilung. Wem klatschen wir hier jeden Donnerstagabend? Den Ärzt*innen und Pfleger*innen oder dem National Health Service als sentimentalisierter Schauplatz eines neuen nationalen Durchhaltemythos?

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Fast zwei Wochen sind vergangen, seit ich mir hier das letzte Mal Luft gemacht hab. Und nein, ich hab sie nicht mit Sauerteigpflege und Körperkultur verbracht, auch wenn mir das sicher besser getan hätte.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Die Sache ist: In der Zeit seither ist die ganze Angelegenheit zu nahe an mich herangekommen, um die nötige Distanz zu wahren.

Obwohl: Ist sie eigentlich nötig, die Distanz?

Ein Freund und eine Freundin in Upstate New York, beide seit Wochen krank, er positiv und 65 Jahre alt, sie etwas jünger und laut Test negativ aber mit einigen bekannten Symptomen, beide zuhause und medizinisch unbetreut. Die Nachricht vorgestern vom Tod der Betreiberin der Premises-Studios in der Hackney Road. Das befreundete Pärchen in einer örtlichen Band, das einen Musikerfreund in Amerika verloren hat. Der lange befürchtete Tod des Vaters eines engen Freunds, er selbst gerade erst genesen, seine Mutter noch im Spital. Er musste ihr von ihrem Mann erzählen und war der einzige in der Verwandtschaft, der den isoliert im Sterben Liegenden noch zu sehen bekam.

Wie in der vorletzten Kolumne hier schon bemerkt: Solche Dinge lassen einen überlegen, was man in sozialen Medien vor den Augen potenziell persönlich Betroffener so von sich gibt. Aber wir sind ja hier in der einen Schritt über den Sprachzaun entfernten Welt meines deutschsprachigen Blogs, also fühle ich mich halbwegs hemmungslos in der Äußerung meiner Wut darüber, was hier abgeht.

Wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll. Vielleicht mit der großen Aufdecker-Geschichte in der letzten Sunday Times mit Titel „38 Tage, in denen Britannien ins Desaster schlafwandelte“ (Paywall), die nebst einem endlosen Katalog der Säumigkeit, chauvinistischen Selbstzufriedenheit und Inkompetenz unter der Regierung und ihren führenden Berater*innen enthüllte, dass der genesende, immer noch abwesende Premierminister in den entscheidenden Wochen des Seuchenausbruchs urlaubte und die fünf ersten Sitzungen des für nationale Ernstfälle einberufenen COBRA-Ausschusses schwänzte.

Vielleicht mit der Tragikomödie rund um die noch immer verheerend geringe Zahl von durchgeführten, teils noch dazu fehlerhaften Tests, die bewirkt, dass man den Meldungen, Großbritannien befinde sich schon auf dem abfallenden Teil der Infektionskurve, kaum Glauben schenken kann. Auf welchen Zahlen sollen die beruhen? (siehe unten)

Mobiles Testzentrum im Kent & Canterbury Hospital

Robert Rotifer

Menschenleerer Corona-Drive-In-Test beim Kent & Canterbury Hospital, ein nicht benötigter Tester geht gerade auf Pause.

Auf einem unserer längeren Spaziergänge kam ich am Wochenende am Parkplatz des örtlichen Krankenhauses vorbei. Dort standen zwei Zelte für mobile Tests, so wie jener, dem sich mein in Amerika lebender kranker Freund Eric neulich unterzog. Aber davor standen keine Autos Schlange, alles war leer.

Ich musste an den Kommentar eines Test-Auswerters neulich denken, der mangels hereinkommenden Testproben den halben Tag in unfreiwilligem Müßiggang verbringt.

Schild auf dem Spitalparkplatz: Abstrichtest für Personal, nur gegen Vereinbarung.

Robert Rotifer

An der Parkplatzeinfahrt stand ein verwaister Ordnersessel, dazu ein Schild mit der Aufschrift „Für Mitarbeiter*innen - Abstrich nur nach Terminvereinbarung“. Getestet wird aber auch unter den Behandelnden weiterhin nur, wer bereits Symptome zeigt.

Demonstrant für Schutzausrüstung

APA/AFP/Isabel Infantes

Oder hätte ich hier besser gleich mit dem täglich unfassbarer werdenden Skandal der mangelhaften Schutzkleidung für Mediziner*innen, Krankenpfleger*innen und Krankenhauspersonal beginnen sollen, dem das Gesundheitssystem vor allem mit Herabsetzungen der Sicherheits-Standards zu begegnen scheint?

Rund hundert Mitarbeiter*innen des National Health Service haben für diese Bedingungen bereits mit ihrem Leben bezahlt.

Nachdem eine 28-jährige, hochschwangere Kollegin starb, deren ungeborenes Kind mit einem posthumen Kaiserschnitt gerettet wurde, stellte sich die ebenfalls schwangere Ärztin Meenal Viz als einzelne Demonstrantin mit einem Plakat mit Aufschrift „Protect Healthcare Workers“ vor die Downing Street.

„Es war so ein krasser Unterschied [gegenüber dem Spitalsalltag]“, erzählte sie dem Guardian, „da im Sonnenschein zu stehen. Du weißt, dass die Leute, die die Entscheidungen treffen, da drin in diesen wunderschönen Gebäuden sitzen. Aber wir sehen Entscheidungen über Leben und Tod. Wir kämpfen um Schutzschürzen. Da draußen kannst du glauben, dass alles in Ordnung ist. Ich habe mich wahrscheinlich sogar selbst genarrt. Aber dann kommt man zu Hause an, und es gibt schon wieder 800 Tote mehr. Deswegen musste ich das jetzt tun.“

Was Meenal Viz da tut, ist sehr mutig, denn Kolleg*innen wurden wegen öffentlicher Kritik bereits mit Rauswurf und Disziplinarverfahren bedroht.

Ja mehr noch: Offenbar hatte die Öffentlichkeitsabteilung des Gesundheitssystems gerade nichts Besseres zu tun, als den über Twitter kursierenden Geschichten über die Vorgänge in den Spitälern mit gefakten Twitter-Profilen zu kontern, die positive Meldungen verbreiten. Angeblich sogar unter Verwendung von Porträts echter Mitarbeiter*innen, die nichts von ihrem virtuellen Doppelleben wussten. Mit Selbstbeschreibungen jener Profile, in denen etwa eine Krankenschwester als Transgender und Pro-EU-Aktivistin dargestellt wird, vermutlich damit sie liberalen Gemütern, die sich um derlei Dinger scheren, glaubwürdiger erscheint.

So alt kannst du nicht werden, es gibt immer noch mehr Zynismus, als du dir vorstellen kannst.

Und es lässt skeptische Gedanken aufkommen, wenn wir mit all den Nachbarn jeden Donnerstag um 20 Uhr vor dem Haus stehen und für den NHS klatschen und mit Kochlöffeln auf Töpfen trommeln. Wem wird hier applaudiert? Wirklich den Ärzt*innen und Pfleger*innen oder dem National Health Service als sentimentalisierter Schauplatz eines neuen nationalen Durchhaltemythos?

Wenn es erstere sind, sollten wir für sie nicht eher schreien als klatschen?

Die größte, verdeckte Tragödie allerdings spielt sich nicht einmal im Gesundheitssystem, sondern in den britischen Eigen- und Pflegeheimen ab. Inzwischen hat sich schon herumgesprochen, dass die offizielle Zahl der Toten (nach heutigem Stand 17.337) nur in Spitälern gestorbene Opfer umfasst, und die Dunkelziffer um einige Tausend höher sein muss. Wie der Guardian heute berichtete, hat sich die Zahl an Todesfällen in englischen und walisischen Pflegeheimen allein in der vorletzten Woche vervierfacht.

Es kommt ja nicht als Überraschung, dass die britische Regierung in der Öffentlichkeitsarbeit so viel besser ist als in der Bewältigung der sich hinter vielerlei verschlossenen Türen ereignenden Katastrophe.
Das war immer schon die (einzige) Expertise der Regierung Johnson. Aber die Gesamtzahl an Todesfällen in Großbritannien ist nun schon seit zwei Wochen die höchste, seit es wöchentliche Aufzeichnungen gibt (2000). Und was dazu geführt hat, wird sich nicht lange verbergen lassen.

Mann in Schutzausrüstung

APA/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS

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