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Sex Work Is Work

Red Edition

Journalismuspreis von unten

Sexarbeiter*innen kämpfen im Lockdown ums Überleben

Seit der Coronakrise ist Prostitution in Österreich verboten. Das stürzt Tausende Sexworker in eine existenzielle Notlage. Warum viele unter den geltenden Regelungen kaum Überlebenschancen haben, ein Umsatteln in der Branche nur den wenigsten gelingt und manche gezwungen sein könnten, Sexdienste illegal wieder aufzunehmen.

Von Claudia Unterweger

Dieser Beitrag vom 22. April 2020 wurde mit dem Journalismuspreis von unten 2020 ausgezeichnet. Claudia Unterweger hat den zweiten Preis in der Kategorie Online erhalten.

Kelly* ist 28, Sexarbeiterin in Wien und hat Glück in der Not. Seit dem Verlust ihres Jobs gelingt es der jungen Belgierin, die nicht unter ihrem richtigen Namen sprechen möchte, sich als Cam Girl mit Online Sex halbwegs über Wasser zu halten. Andere Sexarbeitende führen jedoch seit Wochen in der Isolation einen verzweifelten Überlebenskampf.

Mal Saunaclub oder Laufhaus, Massagestudio oder Escort-Service: bis zum Ausbruch der Coronakrise pendelte Kelly als Sexarbeiterin zwischen Wien und ihrem Herkunftsland Belgien und arbeitete – wie viele Menschen in der Branche – an unterschiedlichsten Orten, erzählt sie mir im Interview. Webcam Sex, Striptease, Gogo-Tanzen, Pornodrehs und mehr: Sexarbeit ist ein breites Tätigkeitsfeld und mehr als nur klassische Prostitution.

Rund 7.000 Menschen sind in Österreich als Sexworker offiziell registriert. Laut Auskunft der Landespolizeidirektion Wien sind das allein in Wien 3.800 Personen. Dazu kommen nach Schätzungen in der Bundeshauptstadt noch weitere 3.000 Personen, die unangemeldet Sexdienste anbieten. Die Arbeitsbedingungen in der Branche variieren stark. Manche der Frauen, Männer und Transpersonen in der Sexindustrie arbeiten selbstbestimmt und können sich Jobs und Kunden aussuchen. Andere kommen aus ärmsten Verhältnissen und müssen um 30 Euro oder weniger auf der Straße anschaffen gehen, um durchzukommen.

Das alles ist nun mit einem Schlag vorbei. Seit dem 16. März gilt auch für die Sexarbeit das COVID-19-Maßnahmengesetz. Abstand zu halten ist Pflicht, Betriebe mit Kundenkontakt mussten schließen, Hausbesuche zur Prostitution sind untersagt. Auch der Straßenstrich ist verboten. Viele Betroffene haben das anfangs nicht gewusst. Es mangelt an offiziellen Infos in den Muttersprachen der Sexarbeiter*innen. „Als das Verbot erlassen worden ist, hat sich die Polizei fair verhalten. Die Kontrollbeamten waren in den Lokalen und am Straßenstrich in Wien unterwegs und haben die Frauen nur nach Hause geschickt, aber nicht gestraft“, berichtet Renate Blum vom Verein LEFÖ, der Migrant*innen in der Sexarbeit berät und unterstützt.

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Erleichtert und ernüchtert zugleich

Kelly und ihre Kolleg*innen erfahren durch ihren Studiobetreiber vom Verbot der Sexarbeit. Er schließt den Club schon einen Tag früher als offiziell angeordnet. Im ersten Moment ist Kelly erleichtert, erzählt mir die 28-Jährige. „Wir alle im Studio waren sehr verunsichert bei unserer täglichen Arbeit. Einige meiner Kolleginnen sind Mütter und haben befürchtet, sich selbst und ihre Kinder mit dem Virus anzustecken.“

Doch die Corona-Sondergesetze haben drastische wirtschaftliche Folgen. Mit 16. März sinkt nicht nur das Einkommen vieler Sexdienstleistenden auf Null. Manche sind ab diesem Zeitpunkt auch obdachlos. Mit der Schließung der Bordelle und Laufhäuser verlieren sie ihre Unterkunft, denn für manche Frauen ist das Studio zugleich auch ihr Wohnort, an dem sie ein Zimmer mieten.

Obdachlos durch Covid-19-Maßnahmen

Die komplette Schließung der Prostitutionslokale stellte sich als Schnellschuss der Regierung heraus. LEFÖ-Mitarbeiterin Renate Blum berichtet: „Um einen drastischen Anstieg der Obdachlosigkeit zu verhindern, haben die Behörden innerhalb einer Woche die Regelung gelockert: Trotz Verbots des Kundenkontakts ist es den Frauen nun doch gestattet, in den Lokalen zu wohnen.“

Allerdings, wer keine Ersparnisse hat, kann vom Vermieter leicht unter Druck gesetzt werden. Manche Betroffene sind letztendlich auf Notschlafstellen angewiesen. Doch auch die Notunterkünfte sind derzeit ausgelastet, aufgrund der vorgeschriebenen Sicherheitsabstände finden nicht so viele Menschen wie üblich dort Platz. Um zumindest einmal am Tag an Essen zu kommen, stehen Sexarbeitende Schlange um Lebensmittelhilfe der Caritas. Auch Gesundheitsversorgung gibt es für Sexworker ohne Krankenversicherung derzeit so gut wie keine. Das Zentrum Ambermed, das medizinische Hilfe für Nichtversicherte leistet, nimmt schon seit einiger Zeit niemanden mehr auf. Viele Betroffene leiden psychisch unter der Isolation und versuchen, zu ihren Familien in ihren Herkunftsländern zurückzureisen. Doch das gelingt nicht allen.

Gestrandet und mittellos

Nach Schätzungen sind 90 Prozent der Sexarbeitenden in Wien Migrant*innen, oft aus Drittländern außerhalb der EU. Die Rückreise in ihre Herkunftsländer ist derzeit nur schwer möglich. Schon als es noch Verkehrsverbindungen gab, konnten sich viele das Rückreiseticket nicht leisten. Jetzt sind die Grenzen weitgehend geschlossen, Bus-, Bahn- und Flugverbindungen eingestellt. Laut Polizei sitzen derzeit 500 Sexarbeiter*innen allein in Wien fest.

Die Suche nach alternativen Einkommensquellen ist für viele von ihnen schwierig. Ein finanzieller Polster zur Überbrückung mehrerer Monate ist selten vorhanden. Wer Glück hat, bekommt vom Kunden einen Vorschuss gezahlt – für zukünftige Services. Andere Betroffene versuchen, auf „oldschool“ Telefonsex oder Onlinekontakte via Social Media umzusatteln, aber der Verdienst ist weitaus geringer als für Sex mit Körperkontakt, erzählt Sexarbeiterin Kelly. Die Preise sind im Keller, und Internetplattformen schneiden nochmal kräftig mit am Verdienst. Schon am Straßenstrich kann der lokale Wettbewerb erbittert sein, auf Sexportalen im Netz konkurrieren Cam Girls jedoch weltweit um dieselben Kunden.

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Umsatteln zum Überleben

Kelly selbst bietet schon länger Onlinesex an und kann auf ihre Stammkunden zurückgreifen. Doch für die Tausenden, die jetzt in der Krise im Internet bei null anfangen, schaut es bitter aus. Die Gesetze der Marktwirtschaft sind unerbittlich. Viele Onlineportale nehmen derzeit gar keine neuen Cam Girls mehr auf, berichtet Kelly.

Ohne Webcam, Laptop und schnelle Internetverbindung kein Live-Onlinesex. Oft scheitert es an der notwendigen Ausrüstung und am digitalen Knowhow: Wie nutze ich die Algorithmen für mehr Views? Wie funktionieren Online-Bezahlsysteme? Auch die Gefahr eines Outings ist online höher. Und schließlich: Wer Kinder und Familie daheim hat, wird kaum Karriere als Cam Girl machen können.

  • Telefon- und Email-Beratung in mehreren Sprachen für Sexarbeiter*innen in Wien gibt es beim Verein Sophie
  • Beratung und Hilfe für Migrant*innen (auch in der Sexarbeit) gibt es beim Verein LEFÖ.

Weiterarbeiten trotz allem?

Stark gesunken ist die Nachfrage nach bezahltem Sex seit Ausbruch der Pandemie. Aber je länger die Prostitution verboten bleibt, desto mehr Kunden könnten sexuelle Dienstleistungen illegal in Anspruch nehmen wollen. Anzeigen wegen illegaler Prostitution gab es laut Landespolizeidirektion Wien bisher schon gegen 8 von 360 genehmigten Lokalen in Wien. Dazu kommen mehrere Anzeigen wegen illegaler Wohnungsprostitution. Und auch wenn Sexarbeiter*innen und Kunden mehrere Hundert bis 3.600 Euro Strafe drohen, in der existenziellen Not könnten Sexworker gezwungen sein, trotz des hohen Ansteckungsrisikos ihre Dienste anzubieten, warnt Renate Blum vom Verein LEFÖ.

Verschärft wird die Not der Betroffenen durch die fehlende Unterstützung der Behörden. Anspruch auf Geld aus dem Härtefallfonds haben nur polizeilich registrierte Sexarbeiter*innen, sie gelten als Neue Selbständige. Keinerlei staatliche Hilfe gibt es für die Tausenden anderen, die nicht registriert sind. Etwa jene, die in Gegenden Österreichs arbeiten, in denen Prostitution de facto nicht erlaubt ist, wie zum Beispiel im gesamten Bundesland Vorarlberg. Oder jene Migrant*innen, die aus Angst vor Abschiebung undokumentiert tätig sind. Auch das Stigma, das der Prostitution anhaftet, trägt dazu bei, dass Sexworker nicht angemeldet sind und jetzt um ihre Ansprüche auf öffentliche Unterstützung umfallen.

Die Politik ist gefordert

Aus Scham wenden sich Betroffene in Not oft aber nicht an Hilfsorganisationen, berichtet Kelly. Sie und ihre Kolleg*innen haben daher ein Online Crowdfunding ins Leben gerufen. Mehrere Tausend Euro an Spenden sind bereits zusammengekommen. Mithilfe ihres Vereins Red Edition, einem Verein von und für migrantische Sexworker, kämpfen sie für mehr Anerkennung und Auswege aus der akuten Not. LEFÖ-Mitarbeiterin Renate Blum unterstützt die Eigeninitiative der Betroffenen, sagt aber auch: „Es sollten nicht Sexarbeiterinnen selbst Spenden sammeln müssen. Es braucht dringend einen offiziellen Notfallfonds für Migrant*innen.“ Die Politik beteuert, dass sie die Schwächsten nicht zurücklassen will. Jetzt wäre es höchste Zeit, dieses Versprechen einzulösen.

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