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The Midnight Gospel: Dialog mit dem Tod

Netflix

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„The Midnight Gospel“ bittet zum berauschten Tänzchen mit dem Tod

„The Midnight Gospel“ auf Netflix ist die Nachfolgeserie zu „Adventure Time“ und dreht sich um existenzielle und spirituelle Fragen im Cartoonformat.

Von Natalie Brunner

„Adventure Time“ ist eine Cartoonserie, die von 2010 bis 2018 von Schöpfer Pendleton Ward und seinem Team produziert wurde. Empfehlenswert sind alle zehn Staffeln abzüglich der Folgen, in denen Paralleluniversen ausgelöscht werden, für Kinder, die noch nicht die Gesetze von Raum und Zeit internalisiert haben, und für Erwachsene, die Hello Kitty als Sympathieträgerin empfinden, keine Lust haben, das Gesamtwerk von William S. Burroughs ein fünftes Mal zu lesen, und darauf warten, dass sich ihr drittes Auge öffnet. So um 2014 herum begann ich zu vermuten, dass „Adventure Time“ keine Fernsehserie ist, sondern die illustrierten Episoden eines spirituellen Kults, der jenseits der Niedrigkeiten von Autorität und Dogmatik gedeiht.

Nach einer sehr kurzen Periode der Skepsis aufgrund des Zeichenstils wäre ich zwischen 2014 und 2016 sofort bereit gewesen die Realität zu verlassen, um bis ans Ende meiner Tage oder besser aller Zeit im Land hinter den Spiegeln, „The Land of Ooo“ zu leben. Der Schauplatz von „Adventure Time“ ist zwar die Erde, aber tausend Jahre nach dem „Great Mushroom War“. Der Planet ist bis auf ein paar Enklaven menschenfrei und von Magie beseelt. Das bedeutet aber nicht, dass all das, was uns momentan das Leben annehmlich macht, verschwunden ist und Ritter mit Holzstäben in tradierter Fantasy-Art auf Drachen losgehen. Wenn es bei „Adventure Time“ eine derartige Konfrontation gibt, dann trägt der Drache wahrscheinlich Frotteeschweißbänder und Tennisdress, hört Walkman und sitzt auf einem Hometrainer.

Die Bewohner*innen des Land of Ooo altern oder auch nicht. Sie wechseln zwischen Multiversen oder auch nicht. Die Körper im The Land of Ooo sind aus Fleisch und Blut oder auch aus Schleim, Eis, Feuer und Candy oder gleich aus kosmischer Energie. Mit Beginn der dritten Staffel von „Adventure Time“ war klar, dass unter all dem auf den ersten Blick verwirrenden psychedelischen Irrsinn für mich ein paar moralische und spirituelle Weisheiten en passant abzugreifen sind. Ich glaube, dass mich „Adventure Time“ näher in den Verständnisradius des Begriffs „Immanenz“ gebracht hat als mein Philosophiestudium.

Groß war mein Frohlocken, als am 3. September 2019 in der letzte Folge von „Adventure Time“ das romantische Happy End gezeigt wurde, auf das ich seit fünf Staffeln gehofft habe. Und unendlich war meine Trauer drei Minuten später, als die letzte Folge gesehen war. Ich begann zu warten auf die vier einstündigen „Adventure Time“-Filme, die 2020 erscheinen sollen. Ich warte immer noch.

Womit ich aber nicht gerechnet hatte, war „The Midnight Gospel“, das Mitternachtsevangelium, eine völlig neue Serie von Pendleton Ward

Der Titel der neuen Serie bestärkt mich in meiner jetzt nicht mehr so ganz privaten Rezeption von „Adventure Time“ als Spiritualität im Cartoonformat.

Jede der acht Folgen der ersten Staffel von „The Midnight Gospel“ hat mich erschüttert und ich muss mich erholen wie von einem potenten psychedelischen Rausch. Das glaube ich zumindest, da ich vor allen Halluzinogenen, legal und illegal, panische Angst und keine First-Hand-Erfahrungen habe, hier aber mein theoretisches Wissen einbringen möchte. Das Halluzinogen DMT etwa stimuliert den visuellen Cortex des Gehirns und der Konsum kann zu Erlebnissen führen, die einer Nahtoderfahrung ähnlich sind. „The Midnight Gospel“ ist nicht weniger psychedelisch, aber um einiges düsterer ist als „Adventure Time“: Es geht ausschließlich um Tod und Vergänglichkeit und den menschlichen Umgang damit.

The Midnight Gospel: Drei Piratenkatzen beim Kartenspielen

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In der neuen Serie hat Pendleton Ward seinen Zeichenstil von kindergerecht noch weiter in Richtung kindlich anmutende Psychedelica für Erwachsene verschoben. Er nimmt Anleihen bei Größen der japanischen Pop Art wie zum Beispiel dem Kanye-West-Intimus Takashi Murakami oder der freiwillig seit über 40 Jahren in der Psychiatrie residierenden Polka Dot Princess und Schöpferin amorpher Universen Yayoi Kusama. Selbstverständlich hat er auch mehr als einmal „Yellow Submarine“ von George Dunning und den Beatles gesehen.

Inhaltlich hat Pendleton Ward mit dem Schauspieler, Komödianten und Podcaster Duncan Trussel zusammengearbeitet. Trussel hat aus acht Gesprächen mit realen Schriftsteller*innen, Mystiker*innen, Aktvist*innen, Musiker*innen Dialoge geschrieben, die er wiederum mit den ursprünglichen Gesprächspartner*innen aufgenommen hat. Es geht um verschiedene Aspekte des Todes und wie mensch es schaffen kann, durch das Wissen, dass das einzig Unvergängliche die Vergänglichkeit ist, ein besseres Leben zu führen. Abschied vom Ich, Magie, Meditation, Vergebung, Spiritualität, Begräbnisrituale, Todespositivität, Drogen, Schmerz und Transzendenz sind die Subthemen, in die die verschiedenen Interviews abbiegen.

The Midnight Gospel

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Jede Episode folgt dem gleichen Aufbau. Die/Der genderneutrale Spacecaster Clancy, gesprochen von Duncan Trussel, benutzt einen vaginaartigen Simulator, in den er/sie kriecht, um sich in eine vom Computer empfohlene Weltensimulation zu projizieren. Dort findet Spacecaster Clancy eines der Wesen, mit denen er die sehr ruhig geführten, fast meditativen Dialoge, also die Interviews für seinen Spacecast führt. Die Bildebene korrespondiert mit dem Inhalt des Gesprächs lose, trägt aber nicht zur Handlung bei. Der rote Faden ist das Interview: Zwei ins Gespräch vertiefte Wesen spazieren durch Welten, die sich in ihrer teilweise schrecklichen Schönheit entfalten und sterben.

In der Folge „Officers and Wolves“ trifft Spacecaster Clancy die Schriftstellerin und LGBTQ-Aktivistin Ann Lamot in Gestalt eines hirschähnlichen Wesens und spricht mit ihr in sakraler Ruhe über das tibetanische Buch des Todes, während sie in einer Welt voller Clowns auf Fließbändern zum Schlachthof transportiert werden. Die beiden hören auch als Faschiertes nicht auf, über die Überwindung des Körpers durch den Geist zu sprechen.

The Midnight Gospel

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In der Folge „Hunters Without a Home“ führt Spacecaster Clancey ein Interview mit Darryl dem Fisch aka Damien Echols. Echols war einer der „West Memphis Three“, drei Metal und Punk hörende Jugendliche, die 1994 aufgrund von Indizien wie Slayer-T-Shirts des Mordes an drei Achtjährigen schuldig gesprochen wurden. Die Anklage unterstellte den Jugendlichen aufgrund von Musik und Kleidungsvorlieben satanistische Motive. Damien Echols saß über zehn Jahre in Einzelhaft in der Todeszelle, bis 2007 neues forensisches Material ihn und die Mitverurteilten entlastete. In „Hunters Without a Home“ ist Darryl der Fisch Kapitän eines Schiffes voller Treppen wie von M. C. Escher und erklärt Clancy, wie die Einzelhaft im Todestrakt ihm geholfen habe, den Begriff „Magie“ neu zu definieren und zu verstehen, wie spirituelle Freiheit durch Meditation erreicht werden kann.

„The Midnight Gospel“ ist keine leicht verdauliche Unterhaltung, sondern eine visuelle und inhaltliche Herausforderung, die den gewohnten Rahmen von TV-Narrativen völlig sprengt.

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