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Sibylle Berg: „Nerds retten die Welt“

In einer Interviewsammlung befragt die Autorin Sibylle Berg verschiedenste Wissenschafter*innen zum Zustand der Welt.

Von Boris Jordan

Sibylle Berg kennt ein paar Tricks. So stellt sie allen „Nerds“ am Anfang dieselbe Frage:

"Haben sie sich heute schon um die Welt gesorgt?“

Was dann folgt, ist für die Leser*innenschaft der Deutsch-Schweizer Autorin schon etwas herausfordernd: Was sie so salopp im Buchtitel als „Nerds“ bezeichnet, sind nämlich führende Wissenschafter*innen in Gebieten, die den Zustand der Welt erforschen und am aktuellsten abbilden. Ihnen stellt sie Fragen zu ihrer Arbeit und sucht Antworten auf die brennendsten Probleme der Gesellschaft – von Femizid und Ungleichheit, Männlichkeit und Krieg, Fragen der Gerechtigkeit und der Geschlechter, von einem Revival autoritärer Ideen bis zum Faschismus, von der Verfasstheit der Demokratien, von den Denkweisen der Tiere, von Robotik und Überwachung, Computersimulation und Katastrophenmanagement, Drogen und Therapien, schwarzen Löchern und Klitorismodellen. Die Autorin und Interviewerin gibt sich (und ist wohl auch) in den Gebieten gut informiert und bietet für uns unbedarfte Leser*innen noch einen kleinen Extraservice: Wann immer jemand zitiert wird oder eine komplexere Frage auftaucht, haben wir mittels QR-Code die Möglichkeit, selbst tiefer in die Erkenntnisse, Forschungen und Fragestellungen der „Nerds“ einzutauchen.

Sibylle Berg

ORF/Hans Leitner

In ihrem Roman „GRM: Brainfuck“ schildert Sibylle Berg ein Endzeitszenario.

Diese „Gespräche mit denen, die es wissen“ sind entstanden, während Sibylle Berg an ihrem letztes Jahr erschienenen und weithin gefeierten Welt- und Neoliberalismus-Erklärungsversuch, dem Roman „GRM“ arbeitete. Für ihrer Recherchen zu diesem Roman wollte Sibylle Berg die brennendsten Fragen, die ihre Protagonist*innen (und sie) beschäftigen, gleich aus berufenstem Munde beantwortet wissen. Und die berufenen Münder geben diese Antworten gerne und - auch wegen der sprunghaft-witzigen und doch informierten Art der Interviewerin – auch kurzweilig und verständlich.

Sibylle Berg greift zu noch einem kleinen Trick. Sie gibt bei jedem Interview vor, in dem jeweiligen Gebiet bereits Expertin zu sein und bittet die „Nerds“ ihre Forschungen für das - mutmaßlich uninformierte - Publikum zusammen zu fassen. Das liest sich hervorragend. Man lernt ungemein viel in diesem Buch. Nicht nur über die Forschung der Interviewten, sondern auch über ihre Arbeitsbedingungen und die Rezeption von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Medien, Politik und Gesellschaft.

Sibylle Berg gibt die Pessimistin. Alles spricht aus ihrer Sicht („Sorge ist mein zweiter Vorname“) für einen schlechten und ungerechten Zustand der heutigen Welt und ihren bevorstehenden Untergang. Die „Nerds“ sind da gar nicht so oft ihrer Meinung, geben sich meist ergebnisoffen und zart optimistisch.

Buchcover in Schwarz, Gelb und Grau mit Grafik: Erde

Kiepenheuer & Witsch

Man sieht die zynische und pessimistische Haltung Sibylle Bergs zum Zustand der Welt, die sich in diesen Zeiten sehr viele Menschen zu eigen machen, manchmal wissenschaftlich bestätigt und sehr oft perspektivisch relativiert. Viele der „Nerds“ glauben an das Herannahen von „etwas Neuem“. Man spürt die Lust der trennscharfen und oft humorigen Interviewerin an der Konfrontation und fruchtbaren Auseinandersetzung mit „denen, die es wissen“, was das ganze Projekt bei aller inhaltlichen Dichte zu einer kurzweiligen Lektüre macht.

Und man lernt auch die „Nerds“ besser kennen, erfährt von ihnen einiges außerhalb des gewählten wissenschaftlichen Horizonts, über Science Fiction, Kunst und Gesellschaft, dass sich Abraham Lincoln wünschte, die Afroamerikaner*innen würden bald nach Afrika zurückkehren, dass in der Schweiz jährlich fünf Tonnen Kokain konsumiert werden, dass pathologische DNA-Diagnostik in Fernsehkrimis zu einem verstärkten Interesse an dem Beruf der Pathologin geführt hat und dann bei Studierenden große Enttäuschung darüber herrscht, dass die Geräte im Fernsehen viel besser funktionieren als in Wirklichkeit. Oder auch Umstrittenes, wie die Ansicht des berühmten Astrophysikers Avi Loeb, dass wir – da es mehr bewohnbare Planeten im All geben müsse als Sandkörner an allen Stränden der Erde - vielleicht schon von extraterrestrischem Leben beobachtet und herzlich ausgelacht würden.

Und am Ende jedes Gesprächs dankt Sibylle Berg den Wissenschaftler*innen mit derselben Formel:

„Ich danke Ihnen für ihren Optimismus.“

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