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Giorgio Agamben

AFP PHOTO / ANDREAS ANDREAS SOLARO / AFP

Blumenaus 20er-Journal

Der Philosoph des Ausnahmezustands und der ethische Zusammenbruch der Gesellschaft

Giorgio Agamben ist ein vielzitierter Mann: sein Buch „Ausnahmezustand“ ist die theoretische Basis für die aktuelle Corona-Lage. Jetzt meldet sich der Italiener mit einem drastischen neuen Text, in dem er uns höflich fragt, ob wir noch ganz dicht sind.

Von Martin Blumenau

Im deutschen Sprachraum wurde blau-, nein eher braunäugig oder nennen wir es blindfleckig der Nazi-Philosoph Carl Schmitt zitiert, als es um schlaue Sätze zum Thema Ausnahmezustand ging - international bemühte man den zwar durchaus umstrittenen, aber politisch-ideologisch nicht instrumentalisierenden Italiener Giorgio Agamben (einen Freund von Frau Bachmann und Herrn Pasolini) und seinen 2004 auch auf Deutsch erschienenen Klassiker „Ausnahmezustand“.

Die Schweizer Neue Zürcher Zeitung hat nun einen aktuellen, unter dem Eindruck der Verheerung in großen Teilen Italiens verfassten Text Agambens veröffentlicht, digital steckt er hinter einer Bezahlschranke, on paper erschien er gestern. Die NZZ, die aktuell von einem wirtschaftsliberalen zu einem rechtsnationalen Kurs driftet, hält sich den als links geltenden Philosophen Agamben als regelmäßigen Gastkommentierer, gewissermaßen als Unruhestifter, und das ist natürlich ganz bewusstes rechtes Kalkül. Und mit seinem „Bloss eine Frage“-Text erwischt der 78-jährige mehr als einen wunden Punkt.

Agamben sagt gleich im ersten Absatz, dass sein Land ethisch und politisch zusammengebrochen ist, weil es seine Grundsätze und Prinzipien aufgegeben habe. Für ihn ist die Tatsache, dass in Italien Corona-Tote verbrannt wurden, ohne bestattet zu werden, ein glatter Kulturbruch.

Sein zweiter von drei Punkten gilt dann aber auch für Rest-Europa: man habe die Einstellung von Freundschafts- und Liebesbeziehungen hingenommen, weil „unser Nächster“ eine mögliche Ansteckungsquelle ist.

Punkt 3 wird noch prinzipieller: Unsere Lebenserfahrung „die immer zugleich körperlich und geistig ist“ wurde aufgespalten, in eine rein biologische Einheit zum einen und eine affektiv-kulturelle zum anderen. Eine Spaltung, die Agamben intellektuell rasend macht.

Auch weil die verordneten Distanzierungs-Maßnahmen ja auch nach dem Ende des Notstands weiter bestehen bleiben werden, ja womöglich das „neue Organisationsprinzip der Gesellschaft“ darstellen.

Ins Gebet nimmt Agamben im Speziellen die Kirche, die einen ihrer Grundsätze (in Zeiten der Not den Kranken beizustehen) verraten habe, sowie die Juristen, die mitgeholfen haben den Eindruck zu erwecken, die Worte der politischen Führung hätten unmittelbare Gesetzeskraft, wiewohl die Texte der Verordnungen etwas anderes sagen - trifft sich mit dem aktuellen Stand der hiesigen Debatte rund um Angstmacherei, Weglassung und andere Schwindeleien.

Auf das Gute oder die Freiheit zu verzichten um das Gute oder die Freiheit zu retten, sagt Agamben, sei ebenso falsch wie das begründende Credo die Opfer „im Namen moralischer Prinzipien dargebracht“ zu haben. Die Schwelle zur Barbarei sei überschritten.

Nebenbei streift Agamben jene seit Beginn der Pandemie populären Thesen der Abwägung von Risiko ein vielleicht allzu populistisches Unterfangen. Seine Kern-These, das Opfer einer Aufspaltung des Mensch-Seins in eine biologische und eine kulturelle Einheit wäre ein weitaus zu Großes, nämlich eine Art Rücksturz in jene finstere Epochen, in denen biologistische Scheinwissenschaften oder Religionen die Menschheit dominierten, trifft einen wunden Punkt. Weil genau diese Überlegungen in den Akut-Maßnahmen der Regierungen nicht etwa medizinischen, politischen, ökonomischen oder mathematischen Argumenten nur untergeordnet waren, sondern einfach gar keine Rolle spielten.

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