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Circus of Books, Karen und Barry Mason

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„Circus of Books“: Ein Ehepaar und ihr Schwulenporno-Imperium

Regisseurin Rachel Mason zeigt in der Dokumentation „Circus of Books“ wie eine Buchhandlung in West Hollywood zur Institution für die Schwulen-Community wurde. Und wie ein heterosexuelles Ehepaar zum größten Schwulenporno-Vertrieb der USA wurde.

Von Philipp Emberger

Karen und Barry Mason, ein heterosexuelles Ehepaar mit drei Kindern, waren über 30 Jahre lang die Besitzer von „Circus of Books“. Sie sind der sympathische Gegenentwurf zu allen Hugh Hefners dieser Welt. Auf einer Party für jüdische Singles trafen sich die beiden zum ersten Mal, sie wurden ein Paar und später Geschäftspartner*innen. In ihrem Laden „Circus of Books“ verkauften die beiden unter anderem pornographische Magazine und DVDs für homosexuelle Männer unter dem Deckmantel eines Buchladens. In einem weiteren Karriereschritt stiegen sie in die Produktion von Schwulenpornos ein und wurden in den 80ern und 90ern zum größten Schwulenporno-Vertrieb in den USA. Wenn sie auf ihrer Couch vor den Familienfotos sitzen, versprühen die beiden Pensionist*innen auf charmante und zurückhaltende Art den Hauch von Revolution.

Willkommen bei den Masons

Karen Mason, die zu Beginn ihrer Karriere noch Karen Heller hieß, wollte Journalistin werden. Zunächst wurde sie das auch. Als Kriminalreporterin berichtete sie über Flugzeugabstürze, Morde und andere Katastrophen. Sie wurde sehr gläubig erzogen und war stets aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde. Ihr Ehemann, Barry Mason, war an der Entwicklung eines medizinischen Geräts für die Dialyse beteiligt. Als er sich die Versicherung, die für eine notwendige Massenproduktion nötig gewesen wäre, nicht leisten kann, verkauft er schließlich die Rechte an dem Gerät. Währenddessen gab Karen ihren Job als Journalistin auf. Es musste also ein anderer Plan gefunden werden, um fortan die Miete bezahlen zu können. In der Doku sagen Karen und Barry: „You don’t have the luxury of not earning a living“, und so erfolgte der erste Schritt in das Pornogeschäft.

Larry Flynt, Herausgeber des Magazins Hustler, war auf der Suche nach Distributoren für sein Magazin, da herkömmliche Vertriebe das Hardcore-Magazin nicht ins Programm nehmen wollten. Karen und Barry Mason übernahmen diese Aufgabe und Barry fuhr mit seinem Transporter durch Los Angeles, um die Magazine auszuliefern. Barry erweiterte sein Sortiment und lieferte bald auch das Magazin „Blueboy“, eines der ersten Magazine für schwule Männer, aus. Damit belieferte er unter anderem das Geschäft „Book Circus“. Nach finanziellen Schwierigkeiten seitens des Besitzers übernahmen Karen und Barry 1982 schließlich das Geschäft und benannten es um. Aus Kostengründen wurde aus dem „Book Circus“ der „Circus of Books“. Praktisch: Denn auf den Ladenschildern waren so zwei Wörter des neuen Ladennamens bereits vorhanden.

Die Masons kamen mit dem Pornoproduzenten Matt Sterling in Kontakt, der auf der Suche nach Distributoren für seine Filme war. Sterling arbeitete mit dem Gayporno-Superstar Jeff Stryker zusammen. Die Masons lernten Jeff Stryker kennen und begannen auf Grund der hohen Nachfrage schließlich selbst Filme zu produzieren. Die Produktion von Schwulenpornos wurde zu dem, was zuvor bereits „Circus of Books“ wurde: Eine weitere Businessmöglichkeit. Hier zeigt sich Karens und Barrys pragmatischer Blick. Sie waren zu Beginn nie selbst Teil der Queer-Community und ihr Blickwinkel ist der eines heterosexuellen Ehepaars.

„We run a bookstore“

Währenddessen haben die Masons ihren drei Kindern nie verraten, womit sie ihr Geld verdienen. Selbst die eigenen Eltern und Freund*innen haben Karen und Barry im Dunkeln gelassen. „We run a bookstore“ wurde zum Familiencredo. Und während im Laden am Santa Monica Boulevard Sexspielzeug, Magazine oder DVDs verkauft wurden, wurde zu Hause in den eigenen vier Wänden das traditionelle, und durchaus konservative, Familienbild hochgehalten. Dieser Spalt wird besonders deutlich, als sich der Sohn John gegenüber seinen Eltern als schwul outet. Karen, die streng religiös erzogen worden ist, sieht das als ihre Bestrafung Gottes.

Circus of Books, Regisseurin Rachel Mason

Netflix

Regisseurin und Tochter der Masons, Rachel Mason

Als Regisseurin der Doku fungiert Rachel Mason. Als Tochter von Karen und Barry ist die Geschichte von „Circus of Books“ auch Teil ihrer eigenen Familiengeschichte. Und so gerät die Regisseurin gleich selbst in den Fokus der Dokumentation. Als Zuseher*in ist man hautnah dabei, wie sie ihre eigene Vergangenheit erforscht. Sie kramt in alten Fotos und zeigt Videos aus dem Familienarchiv. Dieser Blickwinkel erzeugt einen ganzheitlichen Eindruck.

„We’re just an aging, ailing business“

Im digitalen Zeitalter, in dem Pornografie nur einen Mausklick entfernt ist, hat es ein analoger Laden zunehmend schwer. Diese Erfahrung mussten auch die Masons mit ihrem Geschäft machen. Karen Mason liefert in der Doku gleich selbst eine passende Anekdote dazu: Ein ehemaliger Pornomagazin-Verleger hat die Produktion des Magazins mittlerweile eingestellt und betreibt nun eine nachhaltige Landwirtschaft mit Hühnern.

Und auch die Kundschaft von „Circus of Books“ ist in die Jahre gekommen. Erst neulich habe Karen einen Kunden gesehen, der auf die Gehhilfe gestützt im Geschäft einkaufen war. Das beschreibt die letzte verliebene Kundschaft des Geschäfts. Das Conclusio: „We’re just an aging, ailing business“. Ein großer Teil der Doku dreht sich daher auch um die Entwicklung von „Circus of Books“ und die sinkenden Verkaufszahlen, die schließlich zur Schließung des Geschäfts führen.

Circus of Books, Laden von vorne

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Viele ehemalige Weggefährt*innen der Masons kommen in der Dokumentation zu Wort. Darunter die Drag Queen und Teilnehmerin von Drag Race-Alumna Alaska („Hiiiiii!“) und LGBT-Aktivist Alexei Romanoff. Sie bezeichnen „Circus of Books“ als Zentrum des schwulen Lebens in der Nachbarschaft. Und für viele homosexuelle Männer wurde der Buchladen zu einer Anlaufstelle, an der sie sich nicht mehr alleine, marginalisiert und ignoriert gefühlt haben. Gleich hinter dem Laden in West Hollywood befand sich die Vaseline Alley, ein beliebter Treffpunkt für homosexuelle Männer, um miteinander in Kontakt zu kommen. Die Wichtigkeit des Ortes für die LGBTIQ-Community ist daher gar nicht zu hoch einzuschätzen.

Circus of Books, Plakat

Netflix

„Circus of Books“ ist auf dem Streamingdienst Netflix seit 22. April 2020 zu sehen.

„Circus of Books“ als Themeninkubator

Allerdings dient das physische Geschäft „Circus of Books“ in der Doku nur als Ausgangspunkt für verschiedene Themen. Denn die Geschichte von „Circus of Books“ ist auch eine Geschichte über die Repräsentation und Rechte von Homosexuellen, den öffentlichen Umgang mit Pornographie oder die AIDS-Krise. Zur Erinnerung: Zu Beginn des „Book Circus“ in den 60ern war der Aufstand vor dem Stonewall Inn in New York City noch Jahre entfernt. Als Karen und Barry 1982 das Geschäft übernahmen war Homosexualität in manchen Ländern noch per Gesetz verboten.

Der damalige US-Präsident Ronald Reagan hat mit seinem „Anti-Porn Plan“ Pornographie den Kampf angesagt, um seine konservative Agenda durchzusetzen. Pornographie wurde aus der Öffentlichkeit verbannt und als Perversität degradiert. Das hatte auch Auswirkungen auf das Geschäft von Karen und Barry Mason – juristische Konsequenzen inklusive. All diesen Themen widmet sich die 92-minütige Dokumentation. Das macht sie an manchen Stellen überladen, würde doch jedes der angesprochenen Themen eine eigene Dokumentation rechtfertigen. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Eindruck, wie wichtig „Circus of Books“ für viele Männer und die Gesellschaft war.

Eine herzerwärmende Doku

„Circus of Books“ ist ein weiteres Produkt des 300 Millionen US-Dollar schweren Netflix-Deals mit dem Drehbuchautor, Regisseur und Produzenten Ryan Murphy (u.a. Pose). Kaum jemand stellt LGBTIQ-Figuren so zentral in den Mittelpunkt wie Murphy. Mehr als fünf Jahre hat Netflix ihn exklusiv an den Streamingdienst gebunden und weitere Produktionen finden in Kürze den Weg auf die Plattform („A Secret Love“, „Hollywood“, „The Boys in the Band“). Bei „Circus of Books“ war er als Executive Producer mit an Board.

Nach der Schließung hat „Channel 1 Releasing“, ein Unternehmen des Pornoproduzenten Chi Chi LaRue, das Geschäft übernommen und führt dieses am selben Standort in West Hollywood weiter.

„Circus of Books“ gibt nun einen Einblick in eine vergangene Zeit. Gleichzeitig haben die Ereignisse aus dieser Zeit bis heute Eindruck hinterlassen und LGBTIQ-Rechte wesentlich vorangetrieben. Dass daran ein heterosexuelles Ehepaar beteiligt war, ist süß zu sehen. Die beiden sind sympathische Protagonist*innen in einer interessanten und geschichtsträchtigen Doku. Sie wird ihren Platz in der Queer-History bekommen.

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